„Empörend, verletzend, ausgrenzend“, nennt ihn der Spiegel. Dasselbe Medium setzt wenige Wochen später einen drauf: Einen „Freak, einen Störenfried, ein Jahrmarktsereignis“ nennen sie ihn. Als „bemerkenswert einfältig“ bezeichnet ihn die Süddeutsche. Natürlich muß auch die Welt mitmischen und attestiert ihm, „Zahlen-Darwinismus“ zu betreiben. Die Rede ist von Thilo Sarrazin, alle genannten Zitate stammen aus der Zeit nach seinem ersten Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ aus dem Jahr 2010. Doch auch das Journalismus-Urgestein Henryk M. Broder ist heute in Berlin vor Ort – einer der wenigen, die ihm schon vor 14 Jahren zur Seite standen. „Sarrazin spricht aus, was andere ahnen“, sagte er damals zu der Debatte.
Seitdem ist viel passiert. Das zeigt auch der Journalisten-Andrang am Dienstag in der Hauptstadt zur Vorstellung seines neuen Buches „Deutschland auf der schiefen Bahn: Wohin steuert unser Land?“. Gut 50 Reporter kommen, sogar aus den Niederlanden und Österreich. Sarrazin hat viel zu erzählen. Er ist empört über den Zustand der Republik, aber nicht verbittert. „Jede Gegenwart – auch die heutige – bietet ganz unterschiedliche Zukunftsszenarien an“, betont er. Eine weitere Erkenntnis folgt zugleich: „Nostalgie ist meistens ein falscher Ratgeber.“
Von Geburtenraten bis zum Medaillenspiegel
Dann geht es auch schon los. Die Zukunft sei zwar nicht beliebig formbar – aber eben auch nicht zwingend und in Stein gemeißelt, ist sich Sarrazin sicher. Politische Entscheidungen, aber zufällige Ereignisse könnten vieles verändern – auch zum Guten. Die aktuellen Probleme der Republik habe er schon 2010 gesehen, doch inzwischen sei alles nur noch schlimmer geworden. Neben seinem Kernthema, der verfehlten Einwanderungs- und Integrationspolitik, sieht er auch andere gesellschaftliche Baustellen.
Da wäre die eklatante Überalterung der Gesellschaft. Diese koste Wohlstand und Wachstum, jedoch sei Massenmigration nicht die Antwort darauf. Länder wie Japan, Taiwan und Südkorea lieferten das beste Beispiel dafür, daß auch rapide alternde Nationen weiterhin ökonomisch konkurrenzfähig sein können. Gegen gewalttätige Migranten helfen keine Messerverbotszonen, ist sich der ehemalige Sozialdemokrat sicher. Er selbst sei als Kind ein Pfadfinder gewesen und habe stets ein 30 Zentimeter langes Messer am Gürtel getragen. Der kleine, aber feine Unterschied: Er habe nie jemanden damit bedroht.
Auch die zunehmende Leistungsfeindlichkeit Deutschlands sieht Sarrazin mit großer Sorge. Das fange an beim bereits einkalkulierten jährlichen Pisa-Fiasko, gehe über die sinkenden Statistiken der in der Bundesrepublik angemeldeten Patente und ende beim desolaten olympischen Medaillenspiegel. Ein weiteres Problem: die immer restriktiver werdende Cancel Culture. Selbst ein Haudegen wie der ehemaliger Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) halte inzwischen lieber die Klappe – aus berechtigter Sorge über gesellschaftliche Ächtung und soziale Konsequenzen.
Sarrazin beweist Humor
Doch wie kann das Land da wieder rauskommen, fragt einer der anwesenden Journalisten. Was hat Sarrazin konkret für Lösungsvorschläge? Zum einen müsse eine familienfreundlichere Politik die Geburtenraten wieder ankurbeln, zum anderen müßten die Grenzen gesichert und abgelehnte Asylbewerber konsequenter abgeschoben werden. Dänemark zeige, daß das in einem rechtsstaatlichen Rahmen möglich sei.
Zwischendurch beweist der langjährige Politiker, daß er Humor hat. Was sein schreiberisches Schaffen konkret gebracht habe, will ein Journalist wissen. Sarrazin grübelt. Das sei im Wahlverhalten schwer statistisch nachweisbar. Aber: „Nach ‘Deutschland schafft sich ab’ konnte ich mir eine Ferienwohnung leisten.“ Immerhin.
Ein weiterer Appell: „Jammern führt auch nicht weiter.“
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