Anzeige
Anzeige

Buchrezension: Thomas Mann und das Leiden an Deutschland

Buchrezension: Thomas Mann und das Leiden an Deutschland

Buchrezension: Thomas Mann und das Leiden an Deutschland

Der Schriftsteller Thomas Mann gönnt sich eine Zigarre, vor ihm stapeln sich Bücher
Der Schriftsteller Thomas Mann gönnt sich eine Zigarre, vor ihm stapeln sich Bücher
Der Schriftsteller Thomas Mann in einer undatierten Aufnahme / Foto: picture-alliance / dpa | Bifab
Buchrezension
 

Thomas Mann und das Leiden an Deutschland

War Thomas Mann wirklich ein „politischer Aktivist“? Kai Sinas neue Monographie zum 150. Geburtstag des Literaten rückt ihn in dieses Licht – doch bleibt er dabei der „Zauberer“ oder wird er zum Ideologen umgedeutet?
Anzeige

Werteorientierter Arbeitgeber sucht Verstärkung

Der frühe Vogel fängt den Wurm. Getreu dieser alten Bauernregel läutete der Buchmarkt das diesjährige Thomas-Mann-Jubiläum bereits im vorigen Herbst ein. Also schickte auch der Berliner Propyläen Verlag die schlanke Monographie Kai Sinas über „Thomas Mann als politischer Aktivist“ zeitig ins Rennen, um den im Juni 2025 anstehenden 150. Geburtstag des „Zauberers“ zu würdigen.

Thomas Mann und die Politik? Mit Blick auf einige Regalmeter Blätterteig zu diesem Thema scheint doch eigentlich alles gesagt. Und die Hochzeit der Kontroversen, die sich um die politische Kompetenz eines Literaten drehten, ist seit gut zehn Jahren vorbei. Sie begann 1985 mit Joachim Fests Polemik über zwei „unwissende Magier“, Thomas und Heinrich Mann, die das Brüderpaar als hilflos im Irrgarten des Politischen herumtaumelnde, groteske Fehlurteile in Serie fällende Bildungsbürger mehr karikierte als porträtierte.

Der einflußreiche FAZ-Herausgeber Fest griff damit ältere Verdikte auf wie die Walter Boehlichs über die das Politische fatal „ästhetisierenden, moralisierenden, psychologisierenden, personalisierenden“ Zeitdiagnosen des Großschriftstellers, um nachhaltig das Bild eines zutiefst apolitischen Künstlers zu formen, das der Historiker Manfred Görtemaker noch 2005 beglaubigte, als er dem Literaturnobelpreisträger bescheinigte, bis zuletzt geblieben zu sein, was er ein Leben lang war: „ein unpolitischer Dichter“.

 Thomas Mann ist nicht eng politisch zu fassen

Um nun die Arbeit des Literaturwissenschaftlers Kai Sina (Universität Münster) angemessen einzuordnen, ist daran zu erinnern, daß Fests verheerender Befund durch Hans Rudolf Vaget, einen Veteranen der Thomas-Mann-Forschung, inzwischen erheblich relativiert worden ist. Fest, so kritisiert Vaget in seiner Untersuchung über „Thomas Mann, der Amerikaner“ (2011), operiere mit einem viel zu engen Politikbegriff, der den vom konservativen „Unpolitischen“ zum „Wanderredner für Demokratie“ gereiften Schriftsteller daran messe, was er zum Verständnis der Haupt- und Staatsaktionen der Weltkriegsepoche beitrage, welche Einsichten er zeitgenössischen Lesern in die Hintergründe jener politisch-ökonomischen Prozesse gewährte, die sie täglich erlebten und erlitten.

Stattdessen dürfe, ja müsse man solche Kommentierungen des jeweils Aktuellen erwarten nur von Berufspolitikern, Wirtschaftsexperten oder Journalisten. Nicht aber von Thomas Mann, an dessen Publizistik allein die Elle eines weiten Politikbegriffs anzulegen sei, die sie an der Fähigkeit messe, die jenseits des Aktuellen das politische Leben steuernde longue durée der Mentalitäten seismographisch zu erfassen. So wie der Autor des Epochenromans „Doktor Faustus“, der, bis zu Luther und zur Romantik zurückgehend, die historisch-kulturellen Dispositionen des „deutschen Volkscharakters“ für den Sonderweg in die nationalsozialistische Katastrophe freilege.

Mit diesen im Rahmen von „Vergangenheitsbewältigung“ verhandelten Fragen, in deren Zentrum die Frage nach der Verantwortung der Deutschen für den Völkermord an den Juden Europas steht, bleibt das politische, das literarische quantitativ in den Schatten stellende Œuvre Thomas Manns im öffentlichen Bewußtsein präsent. Soweit wie es die lange an der „Unfähigkeit zu trauern“ (Alexander und Margarete Mitscherlich, 1967) abgeprallte Botschaft von deutscher „Kollektivschuld“ transportiert, hat sie sich gegenwärtig sogar in die herrschende Meinung verwandelt.

Gibt es ein gutes, vom Nationalsozialismus unberührtes Deutschland?

Wollte Joachim Fest im Kontext der vom „Historikerstreit“ und von Richard von Weizsäckers Rede im Deutschen Bundestag zum 8. Mai 1985 ausgelösten erinnerungspolitischen Debatten Thomas Mann als Präzeptor Germaniae delegitimieren, um zumindest jene Teile des Bildungsbürgertums zu entlasten, die wie er selbst und seine Familie zwischen 1933 und 1945 „nicht mitgemacht“ hatten, übernahm Bundespräsident Horst Köhler in einer 2005 zum 50. Todestag Thomas Manns in der Lübecker Marienkirche gehaltenen Rede umstandslos dessen härteste Anklagen. Ohne einen ähnlichen Proteststurm zu entfachen wie sein bewältigungspolitisch milderer Amtsvorgänger.

Demnach sei zu akzeptieren, daß der Nationalsozialismus kein Betriebsunfall der Geschichte war, sondern tief in der deutschen Kultur politikabstinenter Innerlichkeit wurzle. Es gebe also kein gutes, vom Nationalsozialismus unberührtes Deutschland.

Woraus folgt, daß die Deutschen in ihrer Gesamtheit verantwortlich sind, wie Köhler ihnen mit Thomas Mann vorhält. Moralisch kompromittiert durch eine singuläre Katastrophe seien mithin alle Deutschen, die überdies ihr eigenes Leiden während des Bombenkriegs und der Vertreibung selbst verschuldet hätten und sich keinesfalls als Opfer fühlen dürften.

Auf dem Buchcover von "Was gut ist und was böse" von Kai Sina sieht man den Schriftsteller Thomas Mann an einem Rednerpult stehen
Kai Sina: Was gut ist und was böse. 304 Seiten, Propyläen Verlag, Jetzt im JF-Buchdienst bestellen

„Gut deutsch sein heißt sich entdeutschen“

Auf so extreme Positionen hatte sich von Weizsäcker, der Flucht und Vertreibung der Ostdeutschen immerhin als „erzwungene Wanderschaft“ verharmloste, noch nicht vorgewagt. Aber zwanzig Jahre später, die Erlebnisgeneration war abgetreten, gierten die nachgeborenen, schuldstolzen „Antifaschisten“ geradezu danach, die historische Schuld ihrer Eltern und Großeltern zu übernehmen, um daraus ihre (unverbindliche) Verantwortung für die Sicherheit Israels abzuleiten und sie zur deutschen „Staatsräson“ zu erklären – für Kai Sina ein „großes, schweres Wort“.

Diese verschlungene Rezeptionsgeschichte als lehrreiches Kapitel der deutschen politischen Kulturgeschichte nach 1945 ist bei Sina zwar stets mitzulesen, schiebt sich aber nur einmal in den Vordergrund. Allerdings in jenen für die hier praktizierte Vereinnahmung im Ungeist des „Kampfes gegen Rechts“ entscheidenden Passagen, die aktuelle Konsequenzen aus Thomas Manns Reflexionen über kollektive Schuld und nationale Identität ziehen. Vorgegeben ist dabei dessen von Nietzsche entliehener Imperativ „Gut deutsch sein heißt sich entdeutschen“.

Um das am gründlichsten zu besorgen, verweist Sina auf die minimalistische Definition Jacob Grimms: „Ein Volk ist der Inbegriff von Menschen, welche dieselbe Sprache reden“ (1846). Damit könne Grimm nicht weiter entfernt sein vom nationalromantischen Denken mit seinen „tribalistischen, ins Völkische deutenden Tendenzen“, von Biologie, Genealogie, Abstammungsgemeinschaft.

Zukunft brauche keine Herkunft, scheint Sina mit Habermas zu glauben

Die einzig korrekte Reaktion, die in ferner Zukunft „Erlösung“ von dieser Schuldlast verspreche, und die Sina nachdrücklicher als der wegen seiner Befangenheit in „nationalen und kulturellen Stereotypen und Klischees“ heftig getadelte Thomas Mann nahelegt, ist ein kollektiver Identitätswechsel fort von der Nation, hin zur kosmopolitischen Gesellschaft.

Die, wie der von Jürgen Habermas hypnotisierte Sina suggeriert, auf einen vorgängigen, durch kulturelle oder gar ethnische Homogenität gesicherten „Hintergrundkonsens“ nicht mehr angewiesen ist. Da paßt es gut, daß die Deutschen nach dem Holocaust ohnehin das Recht eingebüßt hätten, ihre Identität auf etwas anderes zu stützen als auf universalistische staatsbürgerliche Prinzipien.

Zukunft brauche keine Herkunft, scheint Sina mit Habermas zu glauben, weil nicht mehr traditionelle Bindekräfte des Nationalstaats, sondern dürre rechtsstaatlich-demokratische Regeln, denen alle Deutschsprechenden gehorchen, garantieren, daß ein „vernünftiges normatives Einverständnis auch unter Fremden möglich“ werde.

Mann feierte den Zionismus

Einmal abgesehen davon, daß Jacob Grimm – dank der Aufklärungen des Nordisten Klaus von See („Die Göttinger Sieben. Kritik einer Legende“, 1997) – nicht mehr die sprachwissenschaftliche und moralische Autorität genießt, auf deren Wirkung Sina so vertraut wie sein von ihm beifällig zitierter Göttinger Doktorvater Heinrich Detering, der Grimm schon 2019 gegen das angeblich „biologisch-ethnische“ Volksverständnis und die „radikalisierende Rhetorik der AfD“ mit Aplomb in Stellung brachte: Es wird nicht erst seit gestern diskutiert, ob der Erzvater der Germanistik nicht wissenschaftlich darin irrte, die historische Einheit „Volk“ ausschließlich durch die Sprache zu bestimmen.

Unbeabsichtigt konterkariert der Schwerpunkt von Sinas Darstellung die analytisch wenig ertragreiche, doch positivistisch fleißige Rekonstruktion des 1926 einsetzenden, sich bis zur Gründung des Staates Israel im Frühjahr 1948 stetig steigernden Engagements zunächst für den kulturellen, dann für den politischen Zionismus und sein „Projekt“ einer jüdischen Heimstatt in Palästina Thomas Manns militanten Anti-Nationalismus. Konnte er als Pamphletist, Rundfunkagitator und reisender Rhetor im Kampf gegen den Nationalsozialismus dessen Blut-und-Boden-Ideologie nicht genug verdammen, pries er den völkisch grundierten Zionismus um so enthusiastischer für dessen nationale Geschlossenheit, Vitalität und Aggressivität, mit der ein Volk „alten Blutes“ die Landnahme im historischen Lebensraum Palästinas organisiere.

Auf den „erweckten“ Sina (Jahrgang 1981) wirkt dainsoweit verstörend, wie der leider nicht „diversitätssensible“ Thomas Mann einem nationalistischen Atavismus huldige, der sich erdreiste, noch zwischen „Eigen- und Andersheit“ zu unterscheiden.

Aus der JF-Ausgabe 10/24. 

Der Schriftsteller Thomas Mann in einer undatierten Aufnahme / Foto: picture-alliance / dpa | Bifab
Anzeige
Anzeige

Der nächste Beitrag

ähnliche Themen