In seinem aktuellen Buch „Hegemonie oder Untergang“ rechnet Rainer Mausfeld – wieder einmal – mit „dem Westen“ und seinen Eliten ab, welche für ihn für alle Übel dieser Welt verantwortlich sind – von der Umweltzerstörung über die Armut im globalen Süden bis hin zu Krieg und Gewalt. Der bis zu seiner Emeritierung 2016 an der Universität Kiel lehrende Professor für Allgemeine Psychologie ist ehrlich empört über diese Mißstände, und wenn er die aus seiner Sicht Schuldigen anprangert, nimmt er kein Blatt vor den Mund, sondern hat vielmehr Schaum vor demselben – so zumindest der Eindruck des Rezensenten bei der Lektüre dieser Philippika.
Daß er bei so viel Empörung und Betroffenheit weit über das Ziel hinausschießt, vermag nicht zu verwundern. Daß starke Länder schwache dominieren, daß Macht korrumpiert, daß Regierungen versuchen, das Volk zu manipulieren, daß Geheimdienste dazu neigen, sich der Kontrolle zu entziehen und ein Eigenleben zu führen – all das stimmt zwar, trifft aber nicht nur für „den Westen“ zu, sondern galt und gilt immer und überall.
Für Mausfeld scheint dagegen „der Westen“ die Verkörperung des Bösen zu sein. Dabei legt er ein Maß an Verachtung für die eigene Geschichte und Kultur an den Tag, welches mit sachlicher Kritik nur noch wenig zu tun hat und fast schon pathologische Züge annimmt. Dieser Eindruck drängt sich dem Leser auf, wenn der Autor kein Wort von den im und durch den Westen erzielten Fortschritten in Sachen wissenschaftlicher Erkenntnis, Wohlstand, Lebensqualität und Lebenserwartung verliert und stattdessen ausschließlich die – zweifelsohne vorhandenen – Schattenseiten des Aufstiegs und der Dominanz des Westens in den schwärzesten Farben malt.
Riskieren Eliten sogar einen Atomkrieg?
So zutreffend und berechtigt seine Kritik in vielen Punkten auch sein mag – etwa wenn es um die Ukraine-Politik der Nato (JF berichtete), die imperialistischen Tendenzen und die Völkerrechtsverstöße der USA (JF berichtete), die Manipulation der Öffentlichkeit durch Medien und Regierungen, die Auswüchse des Moralismus oder um die gegenwärtige geopolitische Krise durch den Widerstand der USA gegen den Übergang zu einer neuen multipolaren Weltordnung geht –, so gewagt, ja nachgerade abenteuerlich, sind die Schlußfolgerungen, die er daraus zieht.
Trotz der unzweifelhaft großen Bedeutung des Ukrainekonflikts erscheint es übertrieben, in diesem das „Endspiel“ der Weltpolitik zu sehen und eine Niederlage der Ukraine mit dem „Zerfall des Westens“ gleichzusetzen. Diesen Zerfall und damit den Verlust ihrer Hegemonie würden die westlichen Eliten um jeden Preis verhindern wollen – auch um den Preis eines katastrophalen Atomkriegs. So angebracht die Warnung vor einer Eskalation des Ukrainekonflikts auch sein mag, so einseitig und eindimensional ist doch die Analyse Mausfelds: hier der böse Westen, dort der gute Rest der Welt.
In dem Bemühen, die Verworfenheit und Schlechtigkeit des Westens und seiner Eliten zu zeigen, macht sich Mausfeld vieler grober Vereinfachungen schuldig, die in einem Zerrbild der Realität münden. Der Aufstieg des Westens begann nicht erst mit der Kolonisierung, sondern mit der kopernikanischen Revolution und der Entstehung von Naturwissenschaft und modernem Weltbild. Er verdankt sich nicht – oder zumindest nur am Rande – der Ausbeutung und Ausplünderung anderer Länder und Kontinente, sondern in erster Linie der wissenschaftlichen, technologischen und vor allem institutionellen Überlegenheit des Westens.
Die Dominanz des Dollars erlaubt den USA, mehr zu konsumieren
Und so ungleichgewichtig die gegenwärtige Struktur des Welthandels und der Weltfinanzen auch sein mag, so können diese Ungleichgewichte doch nicht als Belege für „neokoloniale Ausplünderung“ der armen Länder durch den Westen angesehen werden. Schließlich beruhen die entsprechenden Transaktionen auf der freiwilligen Zustimmung aller Vertragsparteien und sind von daher per definitionem für alle Vertragsparteien von Vorteil.
Mausfeld verkennt auch die Natur der zwischen den USA und dem Rest der Welt bestehenden handelspolitischen Ungleichgewichte. Die Handels- und Leistungsbilanzdefizite der USA werden nicht durch die Ausplünderung anderer Länder ermöglicht, sondern sind Ausdruck der Rolle des US-Dollars als globale Leitwährung. Da viele Länder außerhalb der USA ihren Handel untereinander in Dollar abwickeln, ist die Weltwirtschaft auf die Versorgung mit Dollars durch die USA angewiesen.
Mit diesem Dollar-Export geht aber zwangsläufig ein Leistungs- bzw. Handelsdefizit einher. Auf diese Weise erlaubt die Dominanz des Dollars den USA, mehr zu konsumieren und zu investieren als zu produzieren. Zumindest war dies bisher der Fall und wird so lange weiter der Fall sein, wie diese Dominanz fortbesteht.
Von „struktureller Gewalt“ zu sprechen, scheint übertrieben
Trotz unbestreitbarer Auswüchse des Kapitalismus erscheint es maßlos übertrieben, von der in diesem angelegten „strukturellen Gewalt“ zu sprechen und zu behaupten, daß „wirkliche Freiheit“ (was immer Mausfeld auch damit meinen mag) im Kapitalismus nicht möglich sei und daß Lohnarbeit „eine Form von Sklaverei“ darstelle. Es erübrigt sich fast, darauf hinzuweisen, daß erst Kapitalismus und Marktwirtschaft Millionen von Menschen aus ihrer materiellen Not befreit und damit ökonomische Freiheit gebracht haben – ohne welche politische Freiheit nur von begrenztem Wert ist.
Aber vielleicht ist der Rezensent auch nur eines der vielen Opfer der psychischen Manipulation durch die westlichen Machteliten? Vielleicht lebt er in der von diesen konstruierten Scheinwelt, mit der sie ihre Herrschaft ideologisch absichern? Ihm ist es jedenfalls noch nicht gelungen, so viel sei zugegeben, aus diesem Gefängnis des Geistes auszubrechen und die Welt so zu sehen, wie sie der Autor sieht.
Er läßt den Leser ratlos zurück
Die „großen affektiven und intellektuellen Mühen“, die dies erfordern würde, hat er noch nicht auf sich genommen – vielleicht weil er als unverbesserlicher Individualist weder in der Lage noch Willens ist, die „kollektiven Analysen“ und „kollektiven Anstrengungen“, von denen Mausfeld spricht, zu unternehmen oder den von ihm empfohlenen Weg „gemeinschaftlich und solidarisch“ zu beschreiten.
Diesen Weg, der den Ausweg aus der „Endkrise“ des Westens darstellen soll, beschreibt Mausfeld nur mit sehr vagen Andeutungen wie den eben zitierten. Er läßt damit den Leser, der ihm bis zum Ende des Buches gefolgt ist, ratlos und enttäuscht zurück.






