Der französische Philosoph und Publizist Alain de Benoist (Jahrgang 1943), Vordenker und Begründer der französischen Nouvelle Droite (Neuen Rechten), war auch für nicht wenige im konservativen und rechtsintellektuellen Milieu Deutschlands ein wichtiger Impulsgeber, der mit seinen Arbeiten auch hierzulande den Aufbruch einer stärker metapolitisch orientierten, theoriefreudigen und geistig offenen Rechten mit vorbereitete. Zentral waren dabei zunächst die zweibändige Anthologie „Aus rechter Sicht“ (1983 und 1984) und die in dieser Zusammenstellung nur in Deutschland erschienene Aufsatzsammlung mit dem Titel „Kulturrevolution von rechts“ (1985/2017), später hinzukommend der Band „Aufstand der Kulturen. Europäisches Manifest für das 21. Jahrhundert“ (1999/2003).
Letztere Titel sind zumindest als Geheimtip immer Dauerbrenner geblieben, erlebten vor wenigen Jahren Neuauflagen und sind nach wie vor jedem Interessierten zugänglich. Die zuletzt erschienene erweiterte Neuauflage seiner Veröffentlichung „Wir und die anderen. Identität ohne Wunschdenken“ (2023) mag nicht ganz an diese Klassiker heranreichen, liefert aber doch interessante Einblicke in die Weiterentwicklung Benoists als Denker jenseits von rechts und links, der sich stets der Verteidigung der Vielfalt der Völker und Kulturen verschrieben hatte.
Benoist analysiert die Aspekte der Identitäts-Debatten
Themen sind erneut die in der Moderne aufgekommene Identitätsfrage angesichts der fortschreitenden Auflösung traditioneller Bindungen, die kommunitaristische Perspektive, Benoists Kritik am liberalen Atomismus, dem falschen Emanzipationsversprechen des Liberalismus und dem Ideal individueller Autonomie, dem die Gemeinschaftsgebundenheit des Menschen entgegengestellt wird. Neben einer präzisen Analyse der Bedrohung der Identität in der globalistischen Marktgesellschaft und der aus ihr folgenden Identitätskrise findet sich auch als weiteres Leitmotiv Benoists Kritik des Nationalismus in seiner jakobinisch-zentralistischen Gestalt wieder, der wie der Globalismus die Tendenz hat, partikulare Identitäten zu unterdrücken oder gar auszulöschen.
Lesenswert sind besonders seine Ausführungen zum Thema Rasse, der Leugnung der Existenz von Menschenrassen und von Rassenunterschieden, also der Negierung biologischer Realitäten wie analog der Geschlechter. Auf diese folgen Betrachtungen zur Ideologie des Antirassismus und dem grassierenden antiweißen Rassismus, der an den Universitäten regelrecht gezüchtet wurde, sowie abschließend ein Exkurs über die jüdische Identität.
Dennoch läßt Benoist den Leser insgesamt etwas ratlos und unbefriedigt zurück. Analytisch ist sein Buch zwar durchaus stark und beleuchtet die verschiedensten Facetten und Aspekte moderner bzw. postmoderner Identität, ihre Krisen, Bedrohtheit und Verwirrungen.
Jede Position läßt sich auf die Spitze treiben
Was dieser wie anderen seiner neueren Veröffentlichungen letztlich fehlt, ist die nötige Konsequenz und Entschiedenheit, die appellative und mobilisierende Kraft, einen Weg zur Verteidigung konkreter kollektiver Identitäten aufzuzeigen. Seine Aufforderung, statt für eine besondere Zugehörigkeit oder eine bestimmte Identität zu kämpfen, sich für eine Weltanschauung einzusetzen, die der Identität und den Zugehörigkeiten den ihnen gebührenden Platz einräumt, hat ihre Berechtigung, bleibt aber doch abstrakt und blutleer.
Zwar ist richtig, daß Identität keine statische Wesenheit darstellt, wie Benoist verdeutlicht, sondern gleichermaßen Substanz und dynamische Realität, in der Kontinuität und Wandel zum Ausdruck kommen. Und grundsätzlich berechtigt ist auch seine Warnung vor einer essentialistischen Verabsolutierung der eigenen Herkunftsgemeinschaft und „identitärer“ Abkapselung, jedenfalls wenn damit beispielsweise eine Komplettabschottung der Europäer gegenüber der außereuropäischen Welt ohne jeden kulturellen Austausch gemeint wäre. So ziemlich jede Position – selbst die für sich genommen richtigste – läßt sich auf die Spitze treiben und kann so eine negative Richtung nehmen.
Man kann sich allerdings des Eindrucks nicht erwehren, daß der französische Meisterdenker und Universalgelehrte, der Benoist zweifellos ist, selbst bis zu einem gewissen Grade den dekonstruktivistischen und relativistischen Tendenzen unserer Zeit im Laufe der Jahrzehnte mehr und mehr seinen Tribut gezollt hat. Die von ihm propagierte Verteidigung der „Differenz“ ist ein richtiger Gedanke, bleibt jedoch eine intellektuelle Abstraktion.
„Wir und die anderen“ ist mit Gewinn zu lesen
Wem es um den Fortbestand der Vielfalt der Völker und Kulturen geht, kommt an der Tatsache nicht vorbei, daß es in der Praxis immer um die Selbstbehauptung konkreter ethnisch-kultureller Gemeinschaften geht, auch und gerade in der Begegnung mit anderen Gruppen. Die Bedrohung der Identität geht eben nicht ausschließlich von den nivellierenden, Unterschiede einebnenden Tendenzen der Moderne aus.
Den von Benoist benannten Gefahren bestimmter Übersteigerungen bei der Identitätsverteidigung, etwa in Gestalt eines National- oder Rassenchauvinismus, wird von der Mehrzahl der identitären Kräfte Europas durch Betonung und Stärkung der verschiedenen Ebenen unserer kollektiven Identität als Angehörigen europäischer Völker und Nationen begegnet (zivilisatorische, nationale/ethnische, regionale/stammesmäßige Ebene der Zugehörigkeit), die problematischen Vereinseitigungen entgegenwirken und der Vielschichtigkeit unserer Identität weit besser gerecht werden. Liebe zum Eigenen bei Anerkennung und Achtung des Anderen, Solidarität vor allem mit den Angehörigen der eigenen Völkerfamilie, aber prinzipielle Sympathie für jede Gemeinschaft, die ihren Bestand über die Zeiten sichern möchte, ohne deshalb die Konfliktträchtigkeit menschlicher Existenz und des Staatenlebens auszublenden.
Fazit: Benoists „Wir und die anderen“ ist mit Gewinn zu lesen. Wer diesen bedeutenden Kopf der europäischen Rechten allerdings wirklich kennenlernen möchte, sei zunächst (oder parallel) auf seine eingangs erwähnten Veröffentlichungen und den lesenswerten Gesprächsband „Mein Leben. Wege eines Denkens“ (2014) verwiesen.