Mitte September wurde in dieser Kolumne gezeigt, wie sich der „Kampf um das Leben“, also die Auseinandersetzungen zwischen Lebensrechtlern und Abtreibungslobby, in den letzten Jahren radikalisiert hat. Diese Auseinandersetzung findet natürlich auch seit Jahren im Internet statt, zuweilen in einer Art und Weise, die noch grotesker ist, als was sich auf den Straßen aufgrund der Angriffe linksradikaler Chaoten abspielt.
Spitzenreiter in dieser Hinsicht sind die Vereinigten Staaten. Die Abtreibungsbefürworter betreiben zuweilen Propaganda für ihre Position mit makabren Methoden, die man in Deutschland wohl als skandalös oder exhibitionistisch bezeichnen würde. So ließ die 25jährige Emily Letts im Sommer ihre Abtreibung filmen und auf Youtube hochladen. Das Video zeigt allerdings nicht die Abtreibung an sich, also das Eindringen der Instrumente in den Körper, um das Kind zu töten und dessen Reste zu entfernen, sondern „nur“ ihr eigenes Gesicht. Im Vorspann erklärt die junge Frau lakonisch, wieso sie das Kind abtreibt: „Ich bin nicht so weit, Kinder zu kriegen.“ In der folgenden Einstellung sagt sie lachend, sie würde eine Abtreibung haben. Das Ganze wirkt seltsam unecht, fast surrealistisch. Man fragt sich zwangsläufig, wie man eine solche Situation emotional bewältigen kann, ohne Drogen genommen zu haben.
Während der Aufnahme des „Eingriffs“ gibt es Einblendungen, in denen Emily Letts erklärt, es gäbe positive „Abtreibungsgeschichten“. Das Video wurde äußerst bekannt und erzeugte eine riesige öffentliche Diskussion. Auf Video aufgenommene Zeugnisse über eigene Abtreibungen sind auf Youtube zahlreich zu finden. Bei vielen hat man den Eindruck, die Frau käme über ihre Tat nicht hinweg und müsse sich irgendwie aussprechen oder gar rechtfertigen. Dem modernen Zeitgeist entsprechend, demzufolge das Private in der Öffentlichkeit zu geschehen hat, tun sie das in einem Video für Youtube.
Geld für Abtreibung mittels Crowdfunding
Ganz im Stile des Web 2.0 wurde das Facebook-Profil Emily Letts’ zu einer Diskussionsplattform. Wie bei Justin Bieber auch, zog die Frau mit der Zeit vom Web 2.0 zum Mainstream. Massenpublikationen wie Cosmopolitan gaben ihr die Möglichkeit, sich breit über ihre Tat auszulassen. CNN nutzte den Fall, um die Reportage „Can abortion be de-stigmatized?“ zu produzieren. Elle wird gleich 25 Frauen berichten lassen, die Abtreibungen hinter sich haben.
Noch extremer und aus politischer und ideologischer Perspektive auch interessanter ist das etwas unbekanntere Beispiel der 23jährigen Bailey: Sie sammelte auf der Crowdfundigseite „GoFundMe“ Geld, um ihre Abtreibung zu finanzieren.
De facto sind das Spenden an eine private Person, die sich in schriller, brutaler und das persönliche Schicksal einbindenden Form für die Abtreibung einsetzt. Solche Zuwendungen setzen eine hohe Identifikation des Spenders mit dem Empfänger voraus. Die Spende ist somit ein finanzielles Bekenntnis zur Abtreibung; sie ist das finanzielle Pendant zum „Gefällt mir“ oder zum „Teilen“ in Facebook.
Propagandistische Wirkung wird Nachahmer anziehen
Sie brauchte 2.500 US-Dollar, doch als sie 2.100 gesammelt hatte, wurde ihr Profil gelöscht. „GoFundMe“ hätte zu viele Protestschreiben bekommen, und dieses Anliegen sei sowieso nicht im Sinne des Betreibers. Kurz nach dem Fall wurden sogar die Nutzungsbedingungen geändert.
Diese Aktion zog auch die Aufmerksamkeit der Fachpresse auf sich. Der Economist bemerkte zum Rückzieher von „GoFundMe“: „Given the outpouring of financial support Bailey received, there is good reason to believe another platform may be more hospitable towards women who need help paying for an abortion.“ Dieses Vorgehen könnte zu einer Konkurrenz für Abtreibungsorganisationen wie „Planned Parenthood“ (die US-amerikanische Mutterorganisation von Pro Familia) erwachsen.
Aufgrund der starken propagandistischen Wirkung ist davon auszugehen, daß viele Frauen Emily Letts oder Bailey nachahmen werden, bis es zu einer Professionalisierung kommt, etwa wie Justin Biber ab einem bestimmten Bekanntheitsgrad von Usher gecoached wurde.
Mit Instrumenten der psychologischen Kriegführung
Diese Form der Propaganda für Abtreibung erinnert an Alices Schwarzers Aktion „Wir haben abgetrieben!“ im Jahr 1971. Dennoch gibt es erhebliche Unterschiede. Alice Schwarzers Aktion stand unter dem großen Motto der Frauenemanzipation. Die Feministinnen argumentierten mit dem Arsenal des marxistischen Klassenkampfes: Frauen seien in einer männerdominierten Welt den Männern völlig untergeordnet, die über ihre Schicksale verfügten, wie sonst nur die Herren über ihre Sklaven. Die Männer hätten sogar Besitz über ihre Körper, und durch eine Schwangerschaft würden sie die Frauen völlig unter ihre Kontrolle bringen.
Im Grunde wurde in der marxistischen Klassenanalyse das Proletariat durch die Frau ersetzt. So entstanden Sprüche wie „Mein Bauch gehört mir“ (und nicht dem Mann). John Lennon formulierte es in „Woman is the nigger of the world“ so: „We make her bear and raise our children.“
Die Bekenntnisse zur Abtreibung im Web 2.0 folgen einem ganz anderen Muster. Man kann behaupten, sie entstammen nicht mehr dem Arsenal des Klassenkampfes, sondern der psychologischen Kriegführung.
Lebensrechtsbewegung muß sich auf neue Formen der Auseinandersetzung einstellen
Auf eine ideologische Rechtfertigung der Entscheidung zugunsten der Abtreibungen wird in den Web-2.0-Beispielen komplett verzichtet. Man argumentiert rein stimmungsmäßig und erwartet gar nicht, eine Diskussion anzuregen. Es geht ausschließlich um Bildung von Empathie. Damit dies gelingt, wird in krasser Form das persönliche Schicksal der weiten Öffentlichkeit präsentiert – ein Seelen-Striptease. So wirken diese Fälle besonders authentisch, besonders „echt“.
Anhand einer Fokussierung auf extreme Einzelfälle und einer grenzenlose Zurschaustellung der psychologischen Aspekte des Konflikts wird wohl die Bildung eines Prototyps angestrebt, der als Leitmodel für die Generationen Y und Z dienen könnte, die in einer poststrukturalistischen Gesellschaft aufgewachsen ist. Solche Fälle könnten zu Archetypen und damit zu lebendigen Katalysatoren für die Empfindungen der „Digital Natives“ werden.
Die Lebensrechtler müssen sich auf diese neue Form der öffentlichen Auseinandersetzung einstellen, um die jungen Generationen erreichen zu können. In der Tat versuchen einige US-Lebensrechtler, Gegenstrategien zu entwickeln. So mehren sich die Videos mit emotional vorgetragenen Reuebekenntnissen von Frauen, die ihr Kind abgetrieben haben. Andere berichten in rührender Weise, wie sie das Kind, das sie zunächst abtreiben wollten, trotz großer gesundheitlicher, finanzieller oder sozialer Probleme trotzdem zur Welt brachten.
Für das Leben rocken, bis zur Erschöpfung
Vor allem Organisationen mit jungen Aktivisten verbinden vollen persönlichen Einsatz und Kommunikation über die sozialen Netzwerke. Ich nenne zwei recht gegensätzliche Beispiele: „Stand True Pro Life Outreach“ und die „TFP-Student Action“.
„Stand True Pro Life Outreach“ wird geleitet von Bryan Kemper, einer schillernden Figur voller Piercings und Tätowierungen. Diese Attribute sind noch aus seiner Zeit, als er „Rock for Life“ gründete und leitete. „Rock for Life“ trägt Trikots in der Öffentlichkeit, in denen ein Fötus E-Gitarre spielt. Irgendwann konvertierte er zum katholischen Glauben und gründete „Stand True“. In beiden Gruppen waren vorwiegend junge Menschen aktiv, die sich Tag und Nacht im ganzen Land in allen möglichen Aktionen bis zur Erschöpfung für die Ungeborenen einsetzten. Diese Intensität erleichtert die Bildung einer Fangemeinde. Das Auftreten dieser beiden Gruppen ist alles andere als konservativ. In Deutschland würden sie zumindest äußerlich als „Autonome“ eingestuft werden.
Betont unangepaßt gegenüber dem Zeitgeist tritt die „TFP-Student Action“, die Jugendorganisation der „American Society for the Defense of Tradition, Familiy and Property“, auf. Sie gehören dem katholisch-konservativen Milieu an. Sie tragen Blazer und Krawatte und scheuen auch nicht davor zurück, an den linkesten Universitäten für das Recht auf Leben einzutreten. Nicht selten werden sie von linken Abtreibungsbefürwortern tätlich angegriffen.
Online-Kampagne für einen Gedenktag für die Ungeborenen
Die Fangemeinden beider Gruppen können die Aktionen fast zeitgleich durch Twitter, Facebook, Instagramm usw. verfolgen.
Deutschland ist noch nicht so weit. Hier gibt es zwar auch Gruppen, die sich sehr intensiv auf der Straße für die Ungeborenen einsetzen, wie etwa die „Helfer für Gottes kostbare Kinder“, die die Gehsteigberatungen organisieren, doch sie haben noch nicht den Weg ins Internet gefunden.
Doch auch bei uns tut sich etwas in dieser Hinsicht. So schreiben die Autoren Eike Sanders, Ulli Jentsch und Felix Hansen im soeben erschienenen Buch „Organisierter Lebensschutz – christlicher Fundamentalismus und Antifeminismus“ zum Online-Aktivismus in Deutschland: „In manchen Fällen werden die SympathisantInnen der Bewegung aufgefordert, an Online-Kampagnen, E-Mail-Aktionen oder Petitionen teilzunehmen. Besonders aktiv in dem Feld ist die Aktion SOS Leben der DVCK, sie sammelt unter anderem Unterschriften für die Einführung eines ‘Gedenktages für die ungeborenen Kinder’.“
Mit der Zeit wird es dazu aus Deutschland sicherlich noch viel mehr zu berichten geben.