Eine Million Euro – das ist der stolze Betrag, den Warschau fortan täglich an Brüssel überweisen soll. Und zwar bis jene Disziplinarkammer wieder aufgelöst ist, welche im Dezember 2019 weitreichende Befugnisse erhalten hatte, Richter zu maßregeln, die durch exzessives politisches Engagement ihren Anspruch auf Unbefangenheit verloren haben. Nun hat die polnische Regierung deutlich gemacht, daß sie nicht willens sei, jene Summe zu zahlen, die, auf ein Jahr hochgerechnet, etwa 0,5 Prozent der Staatseinnahmen ausmacht. Dies hat mehrere Gründe.
Zum einen hatte die polnische Führungsspitze ohnehin bereits im August angekündigt, im Herbst die umstrittene Justizreform einer neuen parlamentarischen Prüfung zu unterziehen und weitreichende Veränderungen der Disziplinarkammer in Aussicht gestellt, die seitdem keine neuen Fälle mehr begutachtet – schneller läßt sich in einem Rechtsstaat eben keine erneute Verfassungsänderung durchpeitschen.
Zum anderen ist Polen sich darüber im klaren, daß die Disziplinarkammer nur die Spitze des Eisbergs darstellt, mißfallen doch auch zahlreiche andere Positionen der derzeitigen Regierung den Brüsseler Eliten, so daß es nur eine Frage der Zeit ist, wann weitere Verfahren, etwa gegen die Demokratisierung des Verfassungsgerichts, die Abtreibungsgesetzgebung, die Ablehnung der LGBTQ-Ideologie usw. eingereicht werden.
Da ist es vorteilhafter für Warschau, die Initiative zu behalten und an der parlamentarisch gestützten organischen Fortentwicklung des polnischen Rechts zu arbeiten, als sich blindlings dem Verdikt der Luxemburger Richter zu unterwerfen – und damit nicht nur die aktuelle Mehrheit in Gefahr zu bringen, sondern auch unabsehbare Konsequenzen zu riskieren. Denn es darf nicht vergessen werden, daß die Rechtsreform lediglich eine Antwort auf die verfassungswidrigen Richterernennungen der linksliberalen Vorläuferregierung gewesen war und durch den bisher von postkommunistischen Cliquen durchsetzten Justizapparat so exzessiv torpediert wurde, daß das seitdem nur mühsam beherrschte Chaos völlig außer Kontrolle geraten würde, sollten die Reformen mitsamt den hieraus abgeleiteten Entscheidungen der letzten sechs Jahre für rechtswidrig erklärt werden.
Nicht mehr viel zu verlieren
Finanziell zu verlieren hat Polen seit der Stundung der Corona-Hilfen, denen wohl bald auch eine Einbehaltung der sonstigen Subsidien folgen dürfte, kaum noch etwas. Die EU reizt allmählich ihre Möglichkeiten aus: Nun könnte es an Polen sein, die eigenen Zahlungen an Brüssel zu stoppen und, sollte die EU an ihrem Destruktionskurs festhalten, notfalls die Teilnahme am Binnenmarkt auszusetzen. Bisher war es die EU, welche die polnische Bevölkerung zur Geisel genommen hat, um in Warschau einen Regime-Change zu orchestrieren, doch der Spieß kann umgedreht werden: Ein Großteil der nach Polen fließenden EU-Gelder gelangt schließlich wieder in die Taschen westlicher, allen voran deutscher Investoren zurück.
Sollte Polen sich gezwungen sehen, diese Transaktionen entsprechend zu versteuern beziehungsweise den äußerst lukrativen eigenen Markt zunehmend für außereuropäische Investoren zu öffnen, dürfte es dem Westen rasch die Arroganz austreiben, Polen als zurückgebliebenen und auf Brüsseler Befehle harrenden Almosenempfänger zu betrachten. Denn jene EU-Gelder sind doch ebenso scharf kalkulierte Ausgleichszahlungen für die bedingungslose Öffnung des polnischen Marktes für westliche Investoren, wie dies auf anderer Ebene zwischen West- und Ostdeutschland der Fall war. Kein Wunder, daß die Deutsch-Polnische Handelskammer Alarm schlägt und alle Parteien zur Mäßigung bei Polexit-Drohungen aufruft. Denn ideal wäre eine solche Abnabelung für Warschau zwar kaum – aber sie würde nicht nur Polen, sondern auch den Westen empfindlich treffen.
Doch nicht nur wirtschaftlich hängen Polen und Westeuropa so sehr voneinander ab, daß beide durch einen Polexit mehr verlieren als gewinnen würden: Auch identitär ist die überwiegende Mehrheit der Polen für einen Verbleib in der EU, während sich die EU nach dem Brexit keinen Polexit (und dann wohl auch Huxit) erlauben kann, wenn sie nicht implodieren möchte. Und gerade außenpolitisch können weder Warschau noch Brüssel, Berlin oder Washington es sich leisten, Polen im Niemandsland zwischen der westlichen Allianz und dem russisch-chinesischen Bündnis zu wissen.
Bei einem Polexit würde niemand gewinnen
Warum also beschwört jeder der Kontrahenten einen Polexit, und wie wird es möglich sein, diese Krise ohne Gesichtsverlust zu beenden? Einfach ausgedrückt: Brüssel und Warschau pokern darum, wer die besten Nerven behält. Brüssel erwartet, durch finanzielle und politische Erpressung der polnischen Bevölkerung einen Regierungswechsel zugunsten von Donald Tusk zu erzwingen, während Warschau beweisen will, daß Unterwerfung nicht die einzige Alternative ist, und auf Zeit spielt – wohl in der Hoffnung, daß die erwartete große Wirtschaftskrise oder ein Regierungswechsel in Italien beziehungsweise Frankreich eine gewisse Entlastung bringen.
Die realistischste und eleganteste Entscheidung wäre es, sich auf halber Strecke zu treffen und eine Beschleunigung der nächsten polnischen Rechtsreform mit einem Zurückpfeifen des auch bei anderen Mitgliedstaaten für seine Anmaßung verstärkt kritisierten EuGH zu verrechnen. Aber ist Realismus in einer Zeit zu erwarten, in der sich alles nur noch um Identitätspolitik und jene absoluten, wenn auch diffusen „Werte“ zu drehen scheint?
Es ist keineswegs auszuschließen, daß die zunehmend radikalisierten linksliberalen Hardliner im EU-Parlament sowie die empörten polnischen Patrioten, angestachelt durch die jeweiligen Medien, das ungleiche Pokerspiel so lange fortsetzen, bis tatsächlich Konsequenzen ausgelöst werden, die sich niemand wirklich wünscht: Auch der Brexit war weder von Brüssel noch von London ernsthaft gewollt – und ist dennoch politische Realität geworden …
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Prof. Dr. David Engels ist Professor für Römische Geschichte in Brüssel und forscht am Posener West-Institut .
JF 45/21