Wäre der Brexit gescheitert, könnten sich die Anhänger des Satzes der Anarchistin Emma Goldman bestätigt fühlen: „Wenn Wahlen etwas verändern würden, dann wären sie verboten.“ Der Brexit beweist das Gegenteil. Tatsächlich besitzt keine andere europapolitische Weichenstellung der letzten Jahrzehnte eine so starke demokratische Legitimation wie der Brexit, der per Referendum beschlossen und durch die Parlamentswahl noch einmal fulminant bestätigt wurde.
Der europäische Verfassungsvertrag, auf dessen Grundlage die EU heute agiert, wurde hingegen von den Franzosen und den Niederländern in Volksabstimmungen abgelehnt – die Deutschen wurden erst gar nicht gefragt. Anschließend wurde der Verfassungsvertrag einfach in Lissabon-Vertrag umgetauft und trotzdem in Kraft gesetzt. An diesem antidemokratischen Projekt wollen die Briten nicht länger teilnehmen.
Der damalige Premierminister David Cameron hatte vor den Parlamentswahlen 2015 versprochen, ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft durchzuführen. Die Briten gaben ihm dafür eine unerwartet klare Mehrheit. Mit dieser war er nicht mehr auf die Stimmen der EU-freundlichen Liberaldemokraten angewiesen. Die euroskeptische UKIP von Nigel Farage erhielt bei diesen Wahlen 12 Prozent der abgegebenen Stimmen. Es hätte selbst dann für eine parlamentarische Mehrheit für das Referendum gereicht, wenn die Briten das deutsche repräsentative Wahlrecht gehabt hätten.
EU-hörige Presse
Beim Brexit-Referendum am 23. Juni 2016 lag die Wahlbeteiligung mit 72 Prozent noch höher als bei den vorhergehenden Parlamentswahlen, an der sich 66 Prozent der Wähler beteiligt hatten. Das Brexit-Lager gewann am Ende mit einem deutlichen Vorsprung von 1,3 Millionen Stimmen. Es ist also falsch, von einem knappen Wahlergebnis zu sprechen. In Deutschland haben in der Vergangenheit schon wenige tausend Stimmen über die Regierungsbildung entschieden. Die deutliche Mehrheit und die hohe Wahlbeteiligung gaben der Regierung ein klares politisches Mandat für den Brexit.
Doch weder das Pro-EU-Lager im Vereinigten Königreich noch die EU und erst recht nicht die EU-hörige Presse in Deutschland waren bereit, dieses klare demokratische Votum zu respektieren. Sie taten alles, um das Ergebnis des Referendums mit völlig abwegigen Argumenten zu torpedieren: Mal hieß es, die Wähler seien nicht jung genug, dann wurde der Wert von Referenden grundsätzlich bestritten, nur um im nächsten Satz ein neues Referendum zu fordern, unter dem Motto: Abstimmen lassen, bis das Ergebnis paßt.
Natürlich wurde den Briten auch der ökonomische Niedergang vorhergesagt. Daß nach der Brexit-Entscheidung die Arbeitslosigkeit in Großbritannien einen historischen Tiefstwert erreichte und nur halb so hoch lag wie im EU- und Eurozonenland Frankreich, wurde geflissentlich verschwiegen.
Revolutionierung der Parteienlandschaft
Als Theresa May mit ihrem Deal im Unterhaus scheiterte, der Ausstieg verschoben wurde und die Briten gegen ihren Willen erneut an der Wahl zum EU-Parlament teilnehmen mußten, schien das Pro-EU-Lager zu triumphieren. Der Historiker Timothy Garton Ash erklärte, die EU müsse den Briten nur noch zurufen „Wunderbar! Wir begrüßen das sehr, wenn ihr bleibt!“ – und der Brexit sei vom Tisch. Viele Brexit-Anhänger hatten die Hoffnung bereits aufgegeben.
Was dann geschah, gehört zu den Sternstunden der Demokratie. Die eigens für diese Wahl gegründete Brexit-Party von Nigel Farage wurde bei der Wahl zum EU-Parlament aus dem Stand mit 30 Prozent die stärkste britische Partei. Damit hatte Farage einmal mehr – wie schon in den Jahren davor – den Bürgern eine Stimme gegeben. Unter diesem Eindruck machten die Torys Boris Johnson zum Premierminister, der seine Bereitschaft zum harten Brexit erklärte und schließlich Neuwahlen zum Unterhaus erzwang.
Der Erdrutschsieg von Boris Johnson bei den Parlamentswahlen im Dezember wird nicht nur Europa verändern, sondern revolutioniert auch die Parteienlandschaft im Vereinigten Königreich. Denn erstmals gelang es den Konservativen, die „rote Mauer“ im Norden Englands zu schleifen. Dort befinden sich Wahlkreise, in denen in den letzten hundert Jahren noch nie ein konservativer Abgeordneter gewählt wurde. Das ist vergleichbar mit dem Erfolg von US-Präsident Trump im Industriegürtel der USA im Nordosten, der bis dahin immer die Demokraten gewählt hatte.
Historische Weichenstellung
Angesichts der drohenden Niederlage des Brexit-Lagers haben die Wähler traditionelle soziale und parteipolitische Gegensätze überwunden, um ihr Recht zu verteidigen, über die Zukunft ihrer Nation selbst zu entscheiden. Boris Johnson selbst nennt dieses Bündnis der konservativen Mittelklasse mit der patriotischen Arbeiterklasse „One Nation Conservatism“. Damit bezieht er sich auf den früheren Premierminister Benjamin Disraeli (1804–1881), dem es schon einmal gelungen war, die Unterstützung der Arbeiterklasse für die Konservativen zu gewinnen.
Den britischen Wählern ist es gelungen, eine historische Weichenstellung gegen den Konsens der politischen Eliten zu erzwingen. Damit ist der Brexit vor allem eines: ein Triumph der Demokratie. Freuen können sich darüber also nicht nur die Briten, sondern alle echten Demokraten.
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Beatrix von Storch ist stellvertretende Bundessprecherin der Alternative für Deutschland und stellvertretende Vorsitzende der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag.
JF 6/20