Vor genau zehn Jahren gab Bundeskanzlerin Angela Merkel vor, wie mit kritischen Büchern umzugehen ist. Erstens nicht lesen, zweitens diffamieren, drittens genauso weitermachen wie bisher. Durch dieses Prinzip konnte Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ zugleich das erfolgreichste wie auch am meisten ignorierte Sachbuch der Nachkriegsgeschichte werden. Nur müssen sich Politiker auch an dieses Prinzip der Tumor-Einkapselung halten. Hier kommt Oskar Lafontaine ins Spiel, ehemals SPD und vielleicht bald ehemals Linkspartei.
Diese schäumt jedenfalls vor Wut, erste Stimmen rufen nach einem Parteiausschluß. Die Vergehen wiegen aus linker Sicht schwer. Nicht nur, daß Lafontaine das Kanzlerinnengebot mißachtete und Sarrazins jüngstes Buch, „Der Staat an seinen Grenzen“, las. Er traf sich mit dem Autor auch noch in aller Öffentlichkeit und – Frevel! – diskutierte über dessen Thesen. Gelassen, freundlich, wie es in früheren Zeiten zwischen ehemaligen SPD-Genossen und Finanzkollegen eigentlich zu erwarten gewesen wäre.
Kein Unterbrechen, kein Schreien, keine Kampf- und Kritiksitzung. Schlimmer noch, Lafontaine relativierte zwar an dieser oder jener Stelle Aussagen Sarrazins, gab diesem aber in vielerlei Hinsicht recht. Wie auch Peter Gauweiler, der gewissermaßen als Christsozialer das Veteranentreffen der alten deutschen Sozialdemokratie komplementierte. Sarrazins Thesen sind schnell erzählt, da sie von einem nichtideologischen Standpunkt aus beinahe banal sind.
Lafontaine und Sarrazin sind sich treu geblieben
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Oder in Lafontaines eigenen Worten: Die „urbanen Schichten“ profitieren von der Migration, wenn sie die billige Pflegekraft aus Polen beschäftigen können. Die ärmeren Schichten dagegen spüren den „Druck auf den Niedriglohnsektor, der natürlich auch gewollt ist von denjenigen, die niedrige Löhne haben wollen“. Hinzu komme dann noch der „Druck auf die Mietpreise in den Stadteilen, in denen die Migranten ohnehin schon wohnen“.
Ach ja, die urbanen Schichten, die nach Lafontaines Ansicht mal ihren moralischen Kompaß neu justieren sollten. „Wir haben doch eine richtige Mode. Wenn Kinder gezeigt werden, die im Mittelmeer ertrinken, dann sind die Mittelmeertoten der Mittelpunkt der Diskussion. Daß da gleichzeitig Millionen an Hunger krepieren, interessiert keine Sau mehr, schon lange nicht mehr.“
Und dann verglich er auch noch die Kosten, für unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge mit dem, was einer „Sozialrentnerin“ monatlich zur Verfügung stehe. Noch irgendwelche Fragen, warum Lafontaine gerade dabei ist, seinem Duzfreund Sarrazin den Rang als linkes Haßobjekt abzulaufen? Dabei kann man ihm ebenso wenig Verrat vorwerfen wie Sarrazin. Beide sind sich einfach treu geblieben.
Schließlich war es Lafontaine, der 2005 sagte: „Der Staat ist verpflichtet, seine Bürger und Bürgerinnen zu schützen, er ist verpflichtet zu verhindern, daß Familienväter und Frauen arbeitslos werden, weil Fremdarbeiter zu niedrigen Löhnen ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen.“ Er konnte sich damals mit dieser Position nicht in der Linkspartei durchsetzen. Diese verweigerte sich dem Versuch, eine Alternative zur herrschenden Politik zu sein. Unangenehm, wenn einen heute wer daran erinnert.