Zur Beschreibung der Lage ist in der AfD der Griff ins militärische Wortarsenal weder unüblich noch verpönt. So begrüßte der Vorsitzende des gastgebenden Landesverbands Nordrhein-Westfalen, Rüdiger Lucassen, die Teilnehmer des Bundesparteitags unter anderem mit der Mahnung, doch bitte nicht in das vom politischen Gegner ausgelegte Minenfeld zu laufen.
Wie könnte ein Resümee des Treffens im niederrheinischen Kalkar also in diesem Sprachbild lauten? Parteichef Jörg Meuthen hat eine Schlacht gewonnen. Für einen Triumphzug reicht sein Sieg im ehemaligen Kernwasser-Reaktor nicht aus. Dafür war er zu mühsam erkämpft und zu knapp.
Aber in der Summe haben die Truppen desjenigen, den im Frühjahr schon so viele innerhalb wie außerhalb der Partei als „Vorsitzenden auf Abruf“ längst abgeschrieben hatten, in den entscheidenden Momenten gestanden.
Am Ende gilt, wie so oft in der Partei: Die Lautstärke des Feldgeschreis sagt noch nichts aus über die Größe der Legion. Im neuen Vorstand konnte Meuthen seine Mehrheit nicht nur halten, sondern sogar ausbauen. Auf allen drei neu zu besetzenden Posten sitzen nun seine Wunschkandidaten. Aber nie war das Wahlergebnis überragend deutlich, es hing einmal sogar an einer einzigen Stimme.
Es gab auch nachdenkliche Töne – auf beiden Seiten
Und dann ging es noch einmal heiß her am kühl-nebligen Morgen des ersten Advent 2020. Mehr als die Hälfte der Delegierten verspürte das dringende Bedürfnis, ausführlich über die Eröffnungsrede ihres Bundesvorsitzenden am Sonnabend zu reden.
Der hatte seiner Partei nicht das Bäuchlein gestreichelt, sondern ordentlich die Leviten gelesen. Das kommt nicht immer gut an im Team Blau, wo man sich bei allem „Mut zur Wahrheit“ gelegentlich recht zartbesaitet zeigt.
Dabei waren jenseits der Aufwallungen an den Saalmikrofonen die Reaktionen auf Meuthens Rede schon am Samstag abend vielstimmig. Sie reichten von ungeteilter Zustimmung und einem beipflichtenden „Endlich sagt´s mal einer deutlich!“ bis zu empörter Ablehnung und dem Vorwurf, hier mache ein Vorsitzender die eigene Partei schlecht.
Aber dazwischen gab es auch nachdenklichere Töne, sowohl auf der einen wie auf der anderen Seite. Selbst einigen Unterstützern Meuthens gingen seine Attacken zu weit. „Unnötig“, nannten Leute aus seinem Lager die unverhohlene Kritik an Fraktionschef Alexander Gauland. Ohne die wäre Meuthens Ruf nach mehr Disziplin glaubhafter gewesen, sagen sie.
Der Strippenzieher des „Flügel“ fehlte spürbar
Andere meinten, der Vorsitzende hätte seine Mahnungen besser mit einer umarmenden Geste verknüpfen, der verbalen Peitsche ein ebensolches Zuckerbrot folgen lassen sollen. Umgekehrt meinte sogar ein Repräsentant des „Flügels“, Meuthen habe in den wesentlichen Punkten seiner Kritik recht – nur habe er den falschen Zeitpunkt dafür gewählt.
Durch den Ausschluß von Andreas Kalbitz fehlte dem offiziell aufgelösten „Flügel“ vor allem der emsige Netzwerker und Strippenzieher. Er schwor in der Vergangenheit nicht nur die eigenen Leute ein, er schaffte es immer wieder, das unentschiedene Drittel, die Weder-nochs, zur Wahl von Flügel-Kandidaten zu gewinnen.
Die Leerstelle, die er hinterließ, konnte nun keiner füllen. Während im gegnerischen Lager seine taktischen Züge, Bündnisse zu schmieden und an der WhatsApp-Front unablässig auf Dauerfeuer zu stellen, erfolgreich umgesetzt wurden.
Daß wiederum die Annahme des sozialpolitischen Leitantrags, an dem auf dem Parteitag wenig geändert wurde, eine Niederlage Meuthens ist, ist die Lesart der „Sozialpatrioten“ und besonders des Thüringer Landesvorsitzenden Björn Höcke. Sie ist verständlich, um nicht ganz so gesenkten Hauptes das Feld zu verlassen, stimmt in dieser Form allerdings nicht.
Meuthen konnte sich mit seinen sehr weitgehenden rentenpolitischen Ideen nicht durchsetzen. Das ist richtig. Aber das war schon klar, als der Leitantrag vor einem dreiviertel Jahr vorgelegt – und auch mit der Stimme des Bundesvorsitzenden beschlossen worden war.
Was den Vertretern des „Sozialpatriotismus“ weniger behagen dürfte: Daß die fast 90-Prozent-Mehrheit der Delegierten dem Antrag zustimmte, zeigt eher, wie nah die AfD doch der als „Altparteien“ geschmähten etablierten Konkurrenz steht. Faktisch vertritt die AfD ein CDU-Sozialprogramm der Achtziger Jahre. Kein Wunder, lag die Federführung der Programmkommission doch in den Händen des früheren CDU-Politikers Albrecht Glaser.
Der Riß verläuft im Zickzack
Im Übrigen hatten auch überzeugte Marktwirtschaftler recht früh erkannt: Hier lohnt sich das Aufreiben nicht. Revolutionäres ist nicht mehrheitsfähig, doch andererseits ist die Rentenfrage so verfahren, daß sich einfache Lösungen verbieten. Also lieber der Kompromiß, der keinem wehtut; eine Frontbegradigung, um im martialischen Bild zu bleiben.
Die Schlacht von Kalkar ist nun geschlagen. Doch die AfD wäre nicht die AfD, wenn nun nicht neue Kämpfe folgten. Jörg Meuthens Kontrahenten im Vorstand und in der Partei haben am Rheinufer eine Niederlage einstecken müssen. Sie werden sich nach dem Wundenlecken allerdings wieder neu sammeln, Strukturen jenseits des ehemaligen, derzeit ziemlich gerupften „Flügels“ aufbauen.
Der Riß, das zeigte sich besonders am Sonntag, geht weiter mitten durch die AfD hindurch. Er verläuft aber nicht gerade, sondern im Zickzack. Mal macht die eine Seite Geländegewinne, mal die andere. Einen Grund Siegeshymnen anzustimmen, hat keine von beiden.