Ob eine organisatorisch geschlossene, politisch schlagkräftige und metapolitisch fundierte AfD gegen den brachialen Druck, der auf sie einwirkt, und die zerstörerische Dynamik im Land mehr ausrichten könnte als ein aufgespannter Regenschirm unter den Niagarafällen, sei dahingestellt. Der Schirm ist jedenfalls zugeklappt. Interne Auseinandersetzungen erwecken den Eindruck einer Fragmentierung und Zerlegung der Partei; nach außen bedeutet das ihre Marginalisierung und Neutralisierung.
Die Konflikte spielen sich nicht ausschließlich, doch ganz wesentlich zwischen Ost und West ab, wobei auch „Wessis“ an der Spitze einiger Landesverbände im Osten stehen. Es geht vor allem äußerlich, aber nicht in der Hauptsache um teilungsbedingte politische Geographie.
Die Westperspektive hat exemplarisch der frühere AfD-Vorsitzende von Hamburg, Jörn Kruse, formuliert. Kruse, ein emeritierter Wirtschaftsprofessor, der im September 2018 die Partei verließ, begründete den Schritt in der FAZ mit einem Saulus-Paulus-Erlebnis: „Chemnitz war zu viel.“ Er bezog sich auf die Proteste in der sächsischen Stadt 2018 nach der Tötung eines Deutschen durch einen irakischen Asylbewerber. Zwei weitere Deutsche waren durch Messerstiche schwer verletzt worden.
Bei der Gelegenheit, so Kruse, hätten „führende Mitglieder der AfD mit rechtsradikalen Leuten gemeinsame Sache gemacht“. Dagegen stünden im Westen „noch eine Menge Leute, die seriöse, konservative, bürgerliche Leute sind“ und „zusammenfinden und massiv dagegenhalten“ müßten, ehe „die Partei – angeführt von einigen im Osten – immer weiter nach rechts rutscht“.
Ende März 2020 legte er in der Zeit nach: „Die meisten Leute, die dem Flügel angehören, sind ja Leute (…) mit eher mittleren und unterdurchschnittlichen kognitiven Fähigkeiten, etwas zu durchschauen und zu analysieren. Die freuen sich, wenn sie jemanden haben, der für sie vordenkt und so richtig auf den Putz haut.“ Die Neugründung einer „liberal-konservativen Partei mit seriösem, bürgerlichem Habitus“ sei wünschenswert und auch „nicht unrealistisch“.
West-Ost-Unterscheidung als Gut-Böse-Raster
Kruses West-Ost- ist ein Gut-Böse-Raster: Bürgerlicher Habitus gegen soziale Anrüchigkeit; kognitive Tiefenschärfe gegen geistige Minderbemittlung; demokratische Verfassungstreue gegen demokratie- und verfassungsfeindlichen Extremismus; Realismus und Abgeklärtheit gegen die Radikalität politischer Romantiker. Doch bilden solche Begriffe und Unterscheidungen in einer Zeit galoppierenden Irrsinns überhaupt noch eine Wirklichkeit ab?
Zurück nach Chemnitz: Der Bürgerprotest richtete sich unmittelbar gegen die Bluttat, des weiteren gegen ihre mediale Verharmlosung und konsequenterweise gegen Merkels Grenzöffnung, die das Land „drastisch“ verändert (Katrin Göring-Eckardt) und dem Messerstecher die Einreise nach Deutschland ermöglicht hat.
Sofort sorgten Politik und Medien für eine Schubumkehr, indem sie die Mär einer „Hetzjagd“ in die Welt setzten und regierungsamtlich bestätigten. Fortan galt in der veröffentlichten Meinung nicht die Bluttat als Skandal, sondern die erbitterte Reaktion darauf. Als Vorwand diente die ungebetene Teilnahme eines bräunlichen Narrensaums, der sich bei solchen Gelegenheiten stets an die Rockschöße des Bürgerprotests heftet, in Chemnitz, Köthen und anderswo. Es handelt sich um eine vom Veranstalter nicht steuerbare Begleiterscheinung, die es – unter linksradikalen Vorzeichen – auch bei Manifestationen der sogenannten Anständigen gibt. Doch nur im Fall der AfD wird sie als angeblicher Ausgangspunkt und Essenz des öffentlichen Auftritts unter Beschuß genommen.
Ein alternativer Politiker müßte diese Zuschreibung als feindliche Aktion des politisch-medialen Apparats identifizieren und zurückweisen; als Versuch, über eine willkürlich hergestellte Kontaktschuld einen Distanzierungsdruck aufzubauen, den Protest zu diskreditieren und zum Verstummen zu bringen. Kruse hingegen übernahm die feindlichen Zuschreibungen und machte sich so Standpunkt und Intention des politischen Gegners zu eigen.
Schmerzhafter Erkenntnisschritt
Wie erklärt sich dieses politische Versagen? Nun, in der eingeschliffenen Wahrnehmung vieler lebenslanger Bundesbürger stellt die Bundesrepublik sich weiterhin als die beste aller möglichen Welten dar, sorgte sie doch jahrzehntelang für Prosperität, Respektabilität und Geborgenheit. Ihre Beschränkungen ließen sich leicht übersehen. Zum Beispiel, daß ihr staatliches Gebilde (wie das der DDR) ein Ergebnis der Ost-West-Blockbildung war.
Es genügte – in den Worten des Politikwissenschaftlers Richard Löwenthal –, „sich an das gemeinsame Interesse des Westens zu halten“, um auf der richtigen Seite zu stehen. Das sorgte auf simple Weise für Orientierung und beschränkte zugleich die Fähigkeit zum politischen Urteil. Dieses Erbe macht es heute vielen schwer, die systemischen Deformationen zu durchschauen. Dieser schmerzhafte Erkenntnisschritt ist jedoch die Voraussetzung, um eine „Alternative für Deutschland“ zu präsentieren.
Der Osten hatte 1990 einen natürlichen Nachholbedarf; heute darf er auf einen Erfahrungsvorsprung pochen. Auf die Erfahrung etwa, daß nichts von Dauer ist, und auf das Privileg des Vergleichs. Natürlich sind der SED-Staat und die Bundesrepublik nicht dasselbe, aber die Angleichungstendenzen sind unübersehbar: Der Sieg der Ideologie über die Realität in der öffentlichen Kommunikation; die repressive Praxis gegen Abweichler, die mit hehren Worten und Vorsätzen begründet wird; die Ermunterung, Förderung und Indienstnahme minderwertiger Charaktereigenschaften durch staatliche und semistaatliche Institutionen.
Drei Grunderfahrungen der „Ossis“ nach 1989
Sieht man von den – wohl unvermeidlichen – Kränkungen, Zurücksetzungen, Überwältigungen im Einigungsprozeß einmal ab, gab es für den Osten nach 1989 drei prägende politische Erfahrungen:
Zunächst brach eine gewaltige Asylantenwelle über das wiedervereinte Land herein, gegen die es sich als wehrlos erwies. An die ohnehin schwer gestreßten Ostdeutschen erging die Aufforderung, den staatlichen Kontrollverlust und den unerbetenen Einbruch in ihre Lebenswelt als neue Normalität zu akzeptieren, als Anpassungsleistung für die Ankunft im Westen. Wobei der ostdeutsche Mangel an „Weltoffenheit“ als Folge vorenthaltener Reisefreiheit und staatlicher Abschottung kurzzeitig mit gönnerhafter Nachsicht betrachtet wurde.
Aus der Ostperspektive wurde die westdeutsche Bundesrepublik früh als Staat wahrgenommen, der seine Grenzen und damit die natürlichen Interessen seiner Bürger weder schützen kann noch will. Was sich als bundesdeutsche Weltläufigkeit präsentierte, bewegte sich überwiegens auf dem Niveau des umtriebigen Kultur-Tourismus. Vertiefte kulturelle, historische, politische Kenntnisse bildeten im öffentlichen Diskurs die Ausnahme, die hypermoralische Blindheit gegenüber kulturellen Bruchlinien, demographischen Verschiebungen und geopolitischen Gegebenheiten war die Regel.
Mit Erstaunen las man beim Überschreiten der alten Ost-West-Grenze Graffiti wie: „Ausländer, laßt uns mit den Deutschen nicht allein.“ Dabei ging es, wohlgemerkt, nicht um den netten Italiener in Kreuzberg oder Lüneburg, bei dem der „Ossi“ die erste Pizza seines Lebens aß, sondern um die Massenzuwanderung aus prämodernen Kulturkreisen. Der Osten bekam eine vage Ahnung, daß der Westen womöglich nicht ganz richtig im Kopf war. Der Willkommensjubel 2015 sollte die Ahnung zur Gewißheit werden lassen.
Kontrollverlust nach außen, Gesinnungskontrolle nach innen
Der Kontrollverlust nach außen ging – und das war die zweite Grunderfahrung – früh einher mit Gesinnungskontrolle im Innern. Schnell lernte der Ex-DDR-Bürger, daß der Weg vom „friedlichen Revolutionär“ zum „Fremdenfeind“, zum „Nazi“ kurz war. Allmählich schälte sich die neurotische NS-Fixierung als Grundtugend und Identitätskern der Bundesrepublik heraus. Mit ihr kam der DDR-Antifaschismus, der nicht nur eine dogmatische Ideologie, sondern auch eine terroristische Praxis gewesen war, nach kurzer Schamfrist wieder zu Ehren.
Aus ihm hatte das SED-Regime seine historische, politische und moralische Legitimation bezogen; mit ihm war die Berliner Mauer – offiziell „Antifaschistischer Schutzwall“ – begründet worden. Im persönlichen Alltag war er zum Schluß kaum mehr als ein entleertes Ritual, dem man sich in periodischen Abständen unterwarf, das einen aber nicht mehr berührte. Der bundesdeutsche Antifaschismus hingegen ist weniger geschichtsphilosophisch als protestantisch ausgerichtet: Er fordert vom einzelnen, neben faschistoiden Überresten in der Gesellschaft auch permanent die braunen Spurenelemente im eigenen Selbst ausfindig zu machen und auszumerzen.
Für die SED-Nachfolger war es ein leichtes, ihre Anschlußfähigkeit an den westdeutschen Antifa-Diskurs nachzuweisen; heute wird er von der Linkspartei und den Grünen dominiert. Der rote Totalitarismus rückte in den Hintergrund oder wurde – als Antifaschismus eben – sogar gerechtfertigt. Die perfide Staatsideologie, aus der die DDR-Bürger sich befreit glaubten, wurde modifiziert, intensiviert und als gesamtdeutsche Staatsideologie zementiert.
Die Euro-Einführung als Panik-Reaktion
Das dritte Lehrstück war die Art und Weise, wie die D-Mark zugunsten des Euro preisgegeben wurde. Eine klug konzipierte Einheitswährung hätte möglicherweise zum Katalysator für eine handlungsfähige Allianz europäischer Staaten werden können, wie sie aufgrund globaler Machtverschiebungen geboten ist. Was die Bundesregierung jedoch betrieb, war keine strategisch angelegte Politik, sondern eine Panikreaktion, eine Flucht vor der Aufgabe, erst einmal das wiedervereinte Land zu konsolidieren und seinen Platz in Europa und der Welt zu bestimmen.
Die politische Klasse schien zu glauben, allein die Tatsache, daß sie die weltweit respektierte – und beneidete – deutsche Währung als Opfer- und Liebesgabe auf dem EU-Altar herschenkte, würde die Partnerländer in der Tiefe ihrer Herzen anrühren und dazu bewegen, ihre Wirtschafts-, Finanz- und Währungspolitik der deutschen anzugleichen. Hier zeigte sich die Unfähigkeit zur Realpolitik, welche die Fähigkeit voraussetzt, das Eigeninteresse zu definieren und fremde Begehrlichkeiten – selbst die vermeintlicher Freunde – gegebenenfalls zurückzuweisen. Es genügt daher nicht, die Einführung und Praxis des Euro unter Hinweis auf technische Fehler und rechtliche Verstöße zu kritisieren; primär handelt es sich um ein politisches und mentales Problem.
Die nötige Zusammenschau aus Hypermoral, Antifaschismus und politischer Schwäche ist – wie gesagt – keine Ost-West-, vielmehr eine Erkenntnisfrage.
Das Bürgertum wird nostalgisch überschätzt
Ob eine „liberal-konservative Partei mit seriösem, bürgerlichem Habitus“ nach dem Bild Jörn Kruses die Politik der Selbstabschaffung verhindern, verzögern oder wenigstens benennen kann? Es ranken sich viel Nostalgie und Illusionen um den Begriff des Bürgertums. Idealerweise bezeichnet der „Bürger“ die Synthese aus dem Bourgeoise, der sozial auf eigenen Füßen steht und seinen Gewinn kalkuliert, und dem Citoyen, der für das Gemeinwohl wirkt.
Der Citoyen hindert den Bourgeoise daran, zum Raffzahn zu werden; der nüchtern rechnende Bourgeoise wiederum bewahrt den Citoyen vor politischem Fanatismus. Doch die Herstellung solchen Gleichgewichts wird unmöglich, wenn das politische Bewußtsein und die Gemeinwohlorientierung des Citoyens schon an der Quelle von einem eschatologisch aufgeladenen Hypermoralismus kontaminiert wird.
Zur Erinnerung: Von 1982 bis 1998 regierte unter Helmut Kohl eine konservativ-liberale Koalition aus CDU, CSU und FDP, die damals allesamt in besserer Verfassung waren als heute. Doch erwiesen diese bürgerlichen Parteien sich schon damals als unfähig, die Grenzen zu schützen. Sie waren es auch (gemeinsam mit der SPD), die dem Land den Euro und damit die Schuldenunion bescherten. Vor dem aggressiven Antifaschismus der Linken sind sie immer weiter zurückgewichen; inzwischen haben sie ihn sich zu eigen gemacht.
Es gibt zwei aktive Übriggebliebene aus der Kohl-Ära. Der eine ist der „Wessi“ Horst Seehofer, der zur allgemeinen Gaudi als tumber Tanzbär durch die Arena torkelt. Die andere ist – die „Ossa“ Angela Merkel, die golemartig agierende Königin der bundesdeutschen Politik. Offenbar hat sie – aus der Distanz und auf ihre Weise – den Westen besser verstanden als dieser sich selbst.