Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach Hartz-IV-Leistungen den Betroffenen nur noch um maximal 30 Prozent gekürzt werden dürfen, hat in allen politischen Lagern die alten, klischeehaften Reflexe ausgelöst und damit sämtliche Akteure in ihre vertrauten ideologischen Schützengräben getrieben. Wirtschaftsliberale sind entsetzt ob des höchstrichterlich abgesegneten Freibriefs für Faulenzerei. Sozialdemokratische Herz-Jesu-Marxisten und die alten Agenda-2010-Kritiker bejubeln das Urteil als längst überfällig. Linksradikalen Sozialisten geht es nicht weit genug. Die Realität ist wieder einmal ein klein wenig komplizierter als es die automatisierten, vorgefertigten Kommentierungen wiedergeben.
„Fordern und Fördern“, lautete das Motto, unter dem die damalige Regierung von Gerhard Schröder (SPD) der Öffentlichkeit die Hartz-Gesetze einst präsentiert hat. Daß es für die dazugehörigen Sanktionen nun eine Klatsche vor dem höchsten deutschen Gericht gab, hat auch damit zu tun, daß die Politik bei beiden dieser Prinzipien völlig versagt hat.
Zeitarbeitsfirmen verdienen sich eine goldene Nase
Das Fordern war und ist in vielen Fällen vor allem ein Fördern der durch die Gesetze neu entstandenen Hartz-IV-Industrie. Statt Arbeitslose, die auf Grund mangelnder Bildung oder dem Fehlen jeglicher Berufskenntnisse schwer vermittelbar sind, mit echten Weiterbildungsmaßnahmen fürs Arbeitsleben fit zu machen, werden sie oft zu völlig sinnlosen Fördermaßnahmen geschickt.
Mitunter nehmen diese schon geradezu groteske Formen an. Wie bei dem nachgebauten Supermarkt, in dem die Arbeitslosen nach dem hallervordenschen Palim-Palim-Prinzip mit Spielgeld und falschen Eiern Kaufmannsladen spielen durften, oder besser gesagt, spielen mußten. Andere werden immer wieder in Bewerbungstrainings geschickt, in denen sie dann wochen- oder gar monatelang das lernen, was man ihnen auch locker in ein paar Stunden hätte beibringen können.
Viele der Zertifikate, die von solchen sogenannten Bildungsträgern an die lernenden Arbeitsuchenden vergeben werden, lösen bei Personalchefs bei der tatsächlichen Bewerbung allenfalls ein müdes Lächeln aus. Auch die Zeitarbeit, durch die Menschen wieder in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden sollen, ist durchaus kritikwürdig. Zwar nicht die Zeitarbeit per se, diese kann gerade in der heutigen schnelllebigen Unternehmenswelt durchaus sinnvoll sein, wohl aber die Zeitarbeit-Vermittlungsfirmen, die aus arbeitsrechtlichen Gründen bei der Vermittlung dazwischengeschaltet werden müssen und bei jedem von ihnen „vermittelten“ Zeitarbeiter kräftig mitverdienen.
Das Urteil ist eine politische Katastrophe
Daß sich so mancher Arbeitsloser bei all dem – auf gut deutsch gesagt – ein bißchen verarscht vorkommt, ist durchaus nachvollziehbar. Darüber, ob er all diese Unsinnigkeiten und Demütigungen aus Dankbarkeit für die erhaltenen Sozialleistungen dennoch mitmachen sollte, kann man zumindest geteilter Meinung sein.
Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit klagten in der Vergangenheit immer wieder über Quotenregelungen, wonach sie angehalten waren, generell einem gewissen Prozentsatz der Empfänger die Leistungen zu kürzen. Daß dies nicht immer nur die Richtigen, sondern manchmal auch einfach die getroffen hat, die sich am wenigsten wehren konnten, oder vor denen die Jobcenter-Angestellten die wenigste Angst haben mußten, dürfte auf der Hand liegen. Es gab also viel Potential für moralische und juristische Anfechtungen.
Der Vizepräsident des Verfassungsgerichts, Stephan Harbarth, hatte bereits vor dem Urteil klargestellt, daß es nicht darum ginge, ob die Sanktionen politisch sinnvoll seien. Das sollte, im Sinne der Gewaltenteilung, wohl auch so sein. Insofern wäscht der Richter seine Hände zu Recht in Unschuld. Denn politisch ist das Urteil, das er und seine Karlsruher Kollegen gefällt haben, natürlich eine absolute Katastrophe.
Niedrigverdiener werden sich verhöhnt fühlen
Es ist die Einführung des Bedingungslosen Grundeinkommens durch die Hintertür und in seiner schlechtestmöglichen Form. Wenn selbst bei totaler Arbeits- und Mitwirkungsverweigerung des Betroffenen dessen Transferleistungen nur um maximal 30 Prozent gekürzt werden dürfen, ist das ein Schlag ins Gesicht aller, die täglich zur Arbeit gehen und über ihre Steuern und Sozialabgaben dieses Müßiggänger-Dasein finanzieren.
Meist ohne selbst je in den Genuß dieses Bedingungslosen Grundeinkommens namens Arbeitslosengeld II zu kommen. Vor allem die Angestellten im Niedriglohnsektor dürften sich nach diesem Urteil mehr denn je fragen: Warum stehe ich eigentlich jeden Morgen auf und rackere mich ab, wenn mein Nachbar, der bis mittags schläft und dann die Spielkonsole einschaltet, die Tiefkühlpizza und die Chips quasi vom Staat frei Haus geliefert bekommt?
Warum schufte ich die ganze Woche, wenn dieser Langschläfer, der nachts immer die Musik so laut aufdreht, daß ich kaum ein Auge zumache, nicht weniger Geld zur Verfügung hat als ich, weil er obendrein auch noch Miete, Strom- und Heizkosten, bis hin zur Krankenversicherung alles von der Solidargemeinschaft bezahlt bekommt?
Der eigene Antrieb wird immer stärker verkümmern
Das Gericht begründete sein Urteil unter anderem damit, daß der Mensch nicht auf das schiere physische Überleben reduziert werden dürfe. Damit erklärt es quasi „Dolce Vita“ zum universellen Menschenrecht. Das süße Leben, und sei es nur in Form von selbstgedrehten Zigaretten, einem Netflix-Abo und dem ein oder anderen gemeinschaftlichen Trinkgelage, muß man sich nicht mehr verdienen, es steht einem ganz einfach zu.
Weil man nun mal ein Mensch ist, der im Sozialstaat Deutschland lebt. Bei aller berechtigter Kritik an den bisherigen Verhältnissen: das kann nicht gerecht sein. Es kann langfristig noch nicht einmal die von Linken oft mit Gerechtigkeit verwechselte Gleichheit bedeuten. Denn die, die ohne etwas dafür zu tun mehr als nur überleben wollen, werden immer ein Heer von Dummen brauchen, das bereit ist, so viel zu leisten, daß sie mit ihrer Produktivität nicht nur das eigene Leben, sondern auch das der Leistungsverweigerer finanzieren.
Ein solch bedingungsloses Wohlstandsminimum hält die Menschen, die darin leben, klein. Wer sich nicht mehr nach einem besseren Leben ausstrecken muß, ja sogar suggeriert bekommt, daß ein solches Ausstrecken sinnlos, wenn nicht sogar kontraproduktiv ist, wird niemals sein volles Potential entfalten. Weder für sich, noch für die Gemeinschaft. Der Einzelne, aber auch die gesamte Gesellschaft, wird dadurch mehr und mehr verkümmern.