Souverän oder unsouverän, das ist hier die Frage. Aufgeworfen hat sie am Montag der Politik-Ressortleiter von Spiegel Online, Roland Nelles. In einem Videokommentar beschimpfte er alle, wirklich alle, AfD-Wähler als „Rassisten“. Konkret sagte Nelles: „Es wird immer gesagt, man müßte die Sorgen und Nöte und Ängste der Wähler ernst nehmen. Das kann vielleicht sein. Ich glaube aber, das ist zu einfach. Ich glaube, man muß auch einmal klar benennen, daß die Wähler der AfD tatsächlich Rassisten sind.“
So schnell geht das heute. Das Kreuz an der „falschen“ Stelle gemacht, und prompt ist der Bürger wahlweise Rechtsextremist, Fremdenfeind, Rassist, Menschenhasser, Faschist oder einfach Nazi. Daß der 1971 in Bonn geborene Nelles sonderlich viel von der AfD, den neuen Bundesländern oder gar Mecklenburg-Vorpommern versteht, würde er sicherlich selbst nicht behaupten. Nachgesagt hat es ihm aus guten Gründen auch noch niemand.
Von der Lebenswirklichkeit verabschiedet
In vielen deutschen Redaktionsstuben hat man sich längst von der Lebenswirklichkeit der „kleinen Leute“ verabschiedet. Nelles, den man wohl in die Kategorie „Besserverdiener“ einordnen kann, macht dies eindrucksvoll deutlich. Der Hamburger Journalist muß sich keine Sorgen machen, was passiert, wenn das nächste Krankenhaus Dutzende Kilometer entfernt ist, wie in einigen Regionen im Nordosten.
Der FAZ-Journalist Patrick Bahners schlägt in die gleiche Kerbe. Die Kanzlerin stehe vor der Aufgabe „eingebildete Nöte“ zu kurieren.
Eingebildete Nöte zu kurieren: vor dieser Aufgabe stand noch kein Bundeskanzler. @SZ pic.twitter.com/u3uxetds3L
— Patrick Bahners (@PBahners) September 6, 2016
Doch sind die Nöte eingebildet? Viele Mecklenburger und Vorpommern fühlen sich nicht nur abgehängt, sie sind es. Bahnhöfe, an denen kein Zug mehr hält, Busse die, wenn überhaupt, nur im Halbtagestakt fahren, sind in vielen Ortschaften keine Ausnahme mehr. Viele können selbst von Vollzeitarbeit kaum noch leben. Journalisten tauchen in dieser tiefen Provinz höchstens alle fünf Jahre auf, um dann über angeblich „braune Dörfer und Landstriche“ zu berichten und zu jammern, daß niemand mit ihnen sprechen wolle. Nein, diese Probleme, diese Lebenswirklichkeit kennt Nelles nicht und will es wohl auch gar nicht. Seine als „Analyse“ verbrämte Meinung ist ihm genug.
Zumindest kann sich das selbsternannte „Sturmgeschütz der Demokratie“ nun nicht mehr ernsthaft über „Lügenpresse“-Vorwürfe oder sinkende Auflagezahlen beschweren.
Und vielleicht geht es also gar nicht um die Frage, ob Nelles mit seiner Wählerbeschimpfung nun souverän oder unsouverän gehandelt hat. Vielleicht sollten wir uns eher mit der Frage beschäftigen, ob dieses Land nicht ein Journalistenproblem hat.