Wahrscheinlich weil es schon lange nicht mehr als das Land der großen Dichter, Denker und Pädagogen gelten kann, wandelt sich Deutschland zum Land der Pseudo-Akademiker. Jeder Bachelor fühlt sich als Akademiker, und jeder Master als „Wissenschaftler“. Kaum hat einer Politologie oder Sozialarbeit studiert, hat er auf seiner Visitenkarte – oder soweit Politiker: auf der Bauchbinde im Fernsehbild – schon „Politikwissenschaftler“ oder „Sozialwissenschaftler“ stehen.
Das schmeichelt dem eigenen Ego, und die Bildungspolitik sonnt sich in großartigen Quoten. Die Schieflagen im deutschen Bildungswesen werden damit aber immer krasser, und die Fachkräftelücke immer größer. 1996 gab es in Deutschland 267.000 Studienanfänger, jetzt sind es fast doppelt so viele, nämlich 510.000. Seit 2014 haben wir pro Jahr zudem mehr Studienanfänger als junge Leute, die eine Berufsausbildung anfangen. 2,9 Millionen Studenten bevölkern mittlerweile Deutschlands Hochschulen. Und: Derzeit haben wir 330 Berufsbildungsordnungen und 18.000 Studienordnungen.
Bezeichnenderweise finden diese Expansionen vor allem in den „Diskussions“-Wissenschaften statt – darunter an rund 250 Gender-Professuren, die eher eine Beschäftigung im öffentlichen Dienst oder bei staatlich alimentierten Nichtregierungsorganisationen (NGOs) garantieren.
Es mangelt an konsequenter Bildungsberatung
Woher all dies kommt? Der Mensch scheint für viele Bildungspopulisten erst mit dem Abitur ein Mensch zu sein. Dieses Gedankengut geht zurück bis in die 1960er Jahre, als der vielzitierte Georg Picht meinte: „Wir brauchen mehr Abiturienten, auch wenn wir sie nicht brauchen.“ Dann kam eine bis heute wirksame Achtundsechziger-Pädagogik, die sich Egalisierung um jeden Preis auf die Fahnen geschrieben hatte – so nach dem Motto: Gymnasium für alle! Solche Sprüche finden sich auf Plakaten linker Parteien heute wieder in Wahlkämpfen.
Dann kam die OECD als Pisa-Ober-Ingenieurin: Angeblich falle Deutschland im globalen Haifischbecken zurück, weil es zuwenig Abiturienten habe. Und fast alle glauben daran – auch die bürgerlichen Parteien. Übersehen wird dabei, daß Deutschland, Österreich und die Schweiz zweifelsohne die niedrigsten Abiturienten-/Maturantenquoten haben, aber zugleich die besten Wirtschaftsdaten, die niedrigsten Arbeitslosenquoten und vor allem die niedrigsten Quoten an arbeitslosen Jugendlichen.
Wo werden und wurden die Weichen falsch gestellt? Zunächst mangelt es an konsequenter Bildungsberatung. Eltern von Grundschülern wird immer noch vorgegaukelt, das Abitur sei „conditio sine qua non“ für eine Karriere. Um dieser Verirrung die Tore zu öffnen, haben 15 der 16 Bundesländer (Bayern noch ausgenommen) den Zugang zum Gymnasium völlig freigegeben – ohne Rücksicht darauf, ob dieser Bildungsweg für alle der richtige sein kann. Weil die Gymnasien aber nicht die knallharten „Selektionsschulen“ sein wollen, passen sie sich der veränderten Schülerklientel an: Die Ansprüche werden heruntergefahren, die Noten werden immer besser, die Sitzenbleiberquoten sinken.
Wie reagieren die Hochschulen?
Immer „besser“ werden auch die Abiturnoten, die Zahl der 1,0-Abiturzeugnisse hat sich binnen zehn Jahren in allen deutschen Ländern verdoppelt, teilweise verdreifacht. Ganze Bundesländer haben Abiturdurchschnittsnoten von 2,1 oder 2,2, einzelne Schulen von 1,8 oder 1,9. Eine Eins vor dem Komma haben mittlerweile an vielen Schulen 40 bis 50 Prozent der Abiturienten.
Wie reagieren die Hochschulen? Weil das Zeugnis der Hochschulreife in Tausenden von Fällen kein Attest mehr für Studierbefähigung, sondern nur noch für Studierberechtigung ist, sehen sich immer mehr Hochschulen gezwungen, Propädeutika für Studienanfänger zu etablieren. Damit sollen den Studienaspiranten der Mint- und Wirtschaftsstudiengänge etwa grundlegende mathematische Kenntnisse beigebracht werden – Kenntnisse, die man für die Bewältigung eines entsprechenden Studiums braucht, die die Aspiranten aber nicht mehr aus der Schule mitbringen.
Zugleich setzt sich an den Hochschulen die Noteninflation fort. Die Rechtswissenschaften, die Medizin und die Technikwissenschaften ausgenommen, tragen drei Viertel der Hochschulabschlußzeugnisse die Gesamtnote 1 oder 2. Viele Hochschullehrer resignieren, sie wollen nicht mehr gegen den Strom schwimmen, deshalb geben sie auch für mangelhafte und ungenügende Leistungen ein „ausreichend“ her.
Deutschland ist kein Zielland für Hochqualifizierte
Und die Folgen für Volkswirtschaft und Arbeitsmarkt? Der „Bachelor“ zertrümmert das vielfach gepriesene und weltweit als Vorbild angesehene System der beruflichen Bildung „Qualified in Germany“. Jedoch will kaum noch einer einen „Blaukittel“-Beruf ergreifen. Viele Handwerksbetriebe geben auf, die Industrie verlagert sich ins Ausland. Die Fachkräftezuwanderung bleibt aus. Denn Tatsache ist: Es kommen Minderqualifizierte, und es gehen Qualifizierte weg. 2019 wanderten rund 180.000 Deutsche aus – die meisten davon junge Akademiker (76 Prozent). Seit 2001 sind fast zwei Millionen Bundesbürger ins Ausland gegangen, zu erheblichen Teilen in die USA und in die Schweiz, zunehmend nach Österreich und Ungarn.
Deutschland ist längst kein Zielland für Hochqualifizierte. Eine überbordende Bürokratie, hohe Sozialabgaben und Steuern, die im Zuge der „Klimapolitik“ immer noch weiter erhöht werden, schrecken Leistungsträger ab. Ob auch das miefige politische Klima in Deutschland ein Grund für den „braindrain“ ist, mag offenbleiben.
Deutschland ist für Leistungsträger jedenfalls wenig attraktiv. Ob das Heer an Pseudo-Akademikern dies zu kompensieren vermag, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden.
JF 12/20