Wo es links gibt, muß es auch rechts geben. Das gilt für die Orientierung im Raum wie für die Orientierung im politischen Bereich. Aber hier haben die Begriffe nicht nur einen sachlichen, sondern auch einen polemischen Charakter. Denn sie stehen für einander entgegengesetzte Weltanschauungen, Bewegungen oder Parteien. Sie können der Selbst- wie der Fremdbezeichnung dienen.
Dabei geht es nie nur um Klärung, sondern immer auch um Wertung: „Es gibt Gut und Böse. Gut ist alles, was nicht böse ist. Böse ist alles, was rechts ist.“ Die Sätze stammen zwar aus dem Jahr 1995, aber der Durchschnittsbürger akzeptierte bis gestern willig, daß „Rechtes grundsätzlich als schlecht, Linkes aber als im Prinzip gut“ zu gelten habe und assoziierte „rechts“ mit „radikal“ (71 Prozent), „gewalttätig“ (67 Prozent), „bedrohlich“ (63 Prozent), „dumm“ (50 Prozent) oder „kalt“ (49 Prozent), während „links“ mit „sozial“ (51 Prozent), „Reformen“ (41 Prozent), „Gerechtigkeit“ (34 Prozent) und „jung“ (34 Prozent) zusammenstand.
Das konnte schon deshalb kaum überraschen, weil die öffentliche Meinung ein getreues Spiegelbild der veröffentlichten war, deren Hüter aus ihrer Parteilichkeit kein Hehl machten und nur rhetorisch die Frage stellten, ob man „mit Rechten reden“ dürfe oder ob „Rechte Rechte“ haben. Denn hierzulande (und nicht nur hierzulande) ist seit langem „dem Verdikt ‘rechts’ eine besondere Schärfe eigen, […] hinter ihm lauert immer ein Superlativ, nämlich das Verdikt ‘faschistisch’, also verbrecherisch“.
Wenn man eine Partei als „links“ bezeichnet, stört sich daran niemand
Rüdiger Safranski hat von „Gleichsetzungsdelirien“ gesprochen, die notwendig dazu führen, daß die Formel rechts = extrem rechts = rechtsextremistisch allgemein akzeptiert wird, die Formel links = extrem links = linksextremistisch keineswegs. Mehr noch, man kann die Waffentaten der Roten Armee feiern und wird als Künstler mit öffentlichen Aufträgen überhäuft, man kann seine Bewunderung für Stalin als Jugendsünde abtun und darf trotzdem auf mediales Wohlwollen rechnen, wenn man eine Partei mit kommunistischen Altkadern gründet, und man kann als Linker in öffentlicher Rede die Liquidierung der Reichen vorschlagen und kommt ungeschoren davon.
Das Ungleichgewicht ist auch eine Folge von Dextrophobie, der Angst vor allem, was „rechts“ ist, als „rechts“ gilt oder davor, als „rechts“ bezeichnet zu werden. Eine Entsprechung auf der Linken gibt es nicht: Wenn man die Partei Die Linke als „links“ bezeichnet, stört sie sich daran so wenig wie die SPD oder das Bündnis Sahra Wagenknecht an entsprechender Etikettierung.
Dagegen löste schon eine Jugendsendung des ZDF helle Empörung in der Unionsspitze aus, weil CDU und CSU der politischen Rechten zugeordnet worden waren. Man wollte als Repräsentantin der Mitte gesehen werden und nichts sonst. Und Alice Weidel, Bundessprecherin der AfD, verweigerte die Selbsteinschätzung auf einer Links-Rechts-Skala und äußerte, daß sie ihre Position jenseits dieses Schemas als „freiheitlich“ bestimmt sehen wolle.
Linke brechen das Gesetz, Rechte stehen unter Beobachtung
Die Sorge vor Rufschädigung im einen wie im anderen Fall ist wohl begründet. Denn die Journalisten und die Geistlichen, die Funktionäre der etablierten Parteien und Gewerkschaften, die Professoren, die Lehrer, die Antidiskriminierungsbeauftragten, die Sozialpädagogen und die Manager der „woken“ Unternehmen legen für die Beurteilung beider Seiten des Meinungsspektrums verschiedene Maßstäbe an.
Es erregt deshalb kaum Aufsehen, wenn Jan van Aken, Co-Vorsitzender der Linken, in Anspruch nimmt, fallweise das Gesetz brechen zu dürfen, weil es ihm um das „Gemeinwohl“ gehe. Aber dasselbe könne natürlich nicht für einen Vertreter der Rechten gelten, der kein Interesse daran habe, „die Allgemeinheit zu schützen“. In denselben Kontext gehört weiter, daß andere hochrangige Vertreter seiner Partei wie Martina Renner und Martin Schirdewan sich mit „Lina E.“ solidarisierten, die wegen zahlreicher politisch motivierter Gewalttaten gegen „Rechte“ vor Gericht gestellt und zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurde.
Man wird nicht behaupten dürfen, daß es hier um mehr oder weniger harmlose Politfolklore geht, denn die Tendenz, in bezug auf links und rechts mit doppelten Standards zu arbeiten, wirkt längst auch in staatlichen Institutionen handlungsleitend. So konnte die Bundeszentrale für politische Bildung, die eigentlich zu strenger Sachlichkeit verpflichtet ist, erst durch scharfe Proteste dazu gebracht werden, eine Veröffentlichung aus dem Netz zu nehmen, die dem Linksextremismus sein humanitäres Potential zugute hielt, während der Rechtsextremismus schlicht keine Entschuldigung für seine Existenz vorbringen konnte.

„Manchmal gingen wir sogar weiter, als der Rechtsstaat eigentlich erlaubt“
Nicht zu vergessen die juristische Dimension des Sachverhalts. Die Band „Feine Sahne Fischfilet“ – deren Sympathie für die äußerste Linke notorisch ist – brachte ins Landesamt für Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern einen „Freßkorb“, um sich für die Erwähnung in dessen Jahresbericht zu bedanken, den man als kostenlose Werbung betrachtete. Ein ähnlicher Vorgang wäre auf der Gegenseite unvorstellbar, die nach ganz anderen Kriterien beurteilt wird.
Der ehemalige bayerische Innenminister Günther Beckstein hat 2011 offen bekannt: „Wir sind bei Rechtsextremisten härter vorgegangen als bei Linksextremisten – weil die Zustimmung in der Bevölkerung hier viel größer ist. Manchmal gingen wir sogar weiter, als der Rechtsstaat eigentlich erlaubt.“ Heute hat man es im Zweifel mit einer Behörde zu tun, die sich als Teil der „Antifa“ begreift und dem Grundsatz folgt: „Nach ‘links’ darf der Staat nur schauen, nach ‘rechts’ darf er schießen“.
Womit nicht behauptet wird, daß es um ein deutsches Spezialproblem geht. Die Ungleichbehandlung von rechts und links zu Lasten der Rechten ist ein weit verbreitetes Phänomen. Im angelsächsischen Raum haben in den letzten Jahrzehnten political correctness und wokeness zu einer Beschränkung der Meinungs- und Meinungsäußerungsfreiheit geführt, die in der „freien Welt“ lange undenkbar schien.
In Frankreich ist die Lage nicht anders
Die französische Lage hat der Philosoph Michel Onfray – ursprünglich selbst ein Mann der Linken – so charakterisiert: „die friedfertigen Identitären, die kein Papier auf die Erde werfen, sehen ihre Organisation aufgelöst, während die polizeibekannten Schwarzen Blöcke ohne Probleme die Provinzstädte und die Kapitale mit Feuer und Blut“ überziehen. Ein Jurist pflichtet dem bei, wenn er zu der Feststellung kommt, daß die französische Linke faktisch über ein „Gewalt-Monopol“ verfüge, das ihr selbst brutalste Angriffe erlaubt, ohne gerichtliche Verfolgung fürchten zu müssen, während auf der Gegenseite schon Propaganda mit Gefängnisstrafen geahndet würde.
Zweifellos hat diese Unwucht bei der Bewertung von rechts und links in Frankreich Tradition. Schon zwei Jahre nach Ausbruch der Revolution wollte in der Nationalversammlung niemand mehr auf der Rechten sitzen, weil das den Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit – das heißt der Sympathie für die alte Ordnung – nach sich ziehen und kurze Zeit später sogar den Kopf kosten konnte.
Die Linke siegt seit hundertfünfzig Jahren
Seit dem August 1793 blieb die côté droit – die rechte Seite – des Parlaments leer, und am Ende des 19. Jahrhunderts konnte man den Eindruck gewinnen, als ob nur noch die côté gauche – die linke Seite – existiere. Man hat von einer „Linksmystik“ gesprochen, die dazu führte, daß die Rechte unsichtbar wurde und nur mehr Parteien der Linken zu existieren schienen. 1924 traten zum letzten Mal die Royalisten als Partei der Rechten an. Danach blieb der rechte Flügel der Kammer wieder unbesetzt, weshalb sich die neugewählten Sozialisten gezwungen sahen, dort Platz zu nehmen.
Der Prozeß lief ähnlich, wenngleich unblutiger, in vielen europäischen Ländern ab. So beschränkten sich die tonangebenden Kreise im deutschen Vormärz darauf, den „Reactionär“ als „ein Ungethüm mit Schwanz, Klauen und Hörnern“ zu karikieren, während in Großbritannien die Überzeugung verbreitet war, daß die Tories notwendig „die dümmste Partei“ bildeten. 1905 legte die dänische Rechte ihren Namen ab und verwandelte sich in die Konservative Partei, seit 1944 firmierte die luxemburgische Rechte als Christlich-Soziale Union, und zum Schluß folgte 1955 die Schwedische Rechte, die zukünftig Gemäßigte Partei heißen wollte.
Bleibt die Frage zu klären, wie es zu dieser Entwicklung kommen konnte. Die am weitesten gehende Deutung bot Ernst Jünger, als er am 22. August 1945 in seinem Tagebuch notierte, es habe die „Welttendenz […] seit langem eine Linksrichtung, die seit Generationen wie ein Golfstrom die Sympathien bestimmt. Die Linke ordnet sich seit über hundertfünfzig Jahren die Rechte unter, nicht umgekehrt.“
Seit der Französischen Revolution ist der Fortschritt Allgemeingut
Der historische Bezugspunkt auf der Rechten ist der „Mythos des Woher“, auf der Linken die „Parteilichkeit für die Zukunft“. Die Linke tendiert dazu, alle bisherige Geschichte nur als Vor-Geschichte anzusehen, eine Phase des Elends, vielleicht des notwendigen Elends, aber des Elends, das überwunden werden muß, indem die Geschichte überwunden wird und die Menschheit aus dem „Reich der Notwendigkeit“ in das „Reich der Freiheit“ eintreten kann.
Kaum ein anderes Versprechen linker Programme hat so anziehend gewirkt wie dieses und ungeheure Energien entfesselt. Die seit der Französischen Revolution praktisch zum Allgemeingut gewordene Vorstellung vom Fortschritt als einem Prozeß nicht nur der technischen Verbesserung, sondern auch der moralischen Höherentwicklung, einte und eint alle politischen Strömungen der Linken.
Daher rührt die Skepsis gegenüber dem linken Lustprinzip
Wobei ausschlaggebend ist, daß Kommunisten, Anarchisten, Sozialisten, aber auch Liberale sich als „Geschichtsagenten“ betrachteten, deren Aufgabe darin besteht, die Hemmnisse beiseite zu räumen, die dem notwendigen Prozeß im Wege stehen, etwa durch die Unterstützung von Revolutionen, jener „Lokomotiven der Geschichte“, die den Fortschritt beschleunigt vorantreiben. Dieses Selbstbewußtsein kann stärker getrübt, aber nicht gelöscht werden.
Die Rechte empfindet eine Art instinktiven Widerwillen gegen die Vorstellung, alles Schicksalhafte auszumerzen. Die phaiakische Existenz – „Immer ist’s Sonntag, es dreht immer am Herd sich der Spieß“ – erscheint nicht nur utopisch, sondern abstoßend. Das hat mit der Überzeugung der Rechten von der identitätstiftenden Wirkung der Geschichte zu tun, deren tragischer Charakter so wenig bezweifelt wird wie die großartigen und begeisternden Momente, die sie enthält.
Daher rührt die Wertschätzung der Rechten für die Erfahrung – gerade für die zur Tradition gewordene – und das, was man gemeinhin „gesunden Menschenverstand“ nennt. Daher rührt die Skepsis gegenüber dem linken Lustprinzip, das die Erfüllung menschlicher Sehnsüchte wenn nicht für einen verbrieften Anspruch, dann doch für eine legitime Erwartung hält.
Heimito von Doderer sprach von „Apperzeptionsverweigerung“
Das bewahrt sie vor dem Schock, der die Linke regelmäßig trifft, nicht nur weil Utopia unerreichbar bleibt, sondern auch weil sich die Hoffnungen, die man in das eigene Personal und das eigene Programm setzt, wieder und wieder ins Gegenteil verkehren. George Orwell suchte diesen Defekt damit zu erklären, daß „die ganze Ideologie der Linken […] von Leuten entwickelt [wurde], die keine Aussichten besaßen, an die Macht zu gelangen“.
Das hat sich im 20. Jahrhundert dramatisch geändert. Was auch erklärt, warum das Beharren auf Positionen, die quer zur Wirklichkeit stehen, jene fatalen Auswirkungen hat, die wir heute beobachten können. Heimito von Doderer sprach von „Apperzeptionsverweigerung“.
Eine Möglichkeit, die dem Menschen immer offensteht. Was viel von der Ewigkeitsgarantie für die Linke erklärt, aber auch von der Notwendigkeit einer Gegenkraft, die eine politische Dialektik aufrechterhält, die die eine Seite nicht ohne die andere sein läßt, und ihren Vorrang verteidigt, denn: „Die Wirklichkeit ist immer rechts.“