„Bis heute“, schimpft Uwe Tellkamp, „warte ich noch immer auf einen grundlegend kritischen Artikel über Angela Merkel in der deutschen Presse, einen der ihre Politik im Ganzen kritisiert!“ Der deutschen Presse ist der Dramaturg, Schriftsteller und Sachbuchautor Klaus-Rüdiger Mai nun zuvorgekommen. Denn kurz vor Erscheinen der mit Spannung erwarteten Autobiographie der Altkanzlerin (Angela Merkel: „Freiheit. Erinnerungen 1954-21“) hat er nun seine „kritische Biographie“ vorgestellt: „Angela Merkel. Zwischen Legende und Wirklichkeit“
Wortgewaltig präsentiert hat das knapp vierhundert Seiten starke Werk am Freitag in Berlin Mais Schriftstellerkollege Uwe Tellkamp. Der gebürtige Dresdner gilt spätestens seit seinem tausendseitigen Schlüsselroman „Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land“ (2008 erschienen, 2012 verfilmt) als Kenner und Deuter der Gesellschaft der späten DDR – also eben jener Sozialisation, der auch Deutschlands erste Kanzlerin entstammt. So wie auch Mai, geboren 1963 in Staßfurt bei Magdeburg, der damit über die ideale Voraussetzung verfügt, um mit seiner Biographie „hinabzusteigen in die Tiefe, die den Menschen (Merkel) ausmacht“ (Verleger Christian Strasser).
Falsches Bild von Merkel als gewissenhafter, treusorgender „Mutti“ der Nation
„Cosa Ostra“ nennt Tellkamp ironisch Autoren wie sich und Mai – erwähnt auch Alexander Wendt und Thorsten Hinz: „Strittige Geister“, die dank ihrer DDR-Erfahrung einen Blick für das manipulative ideologische Gespinst entwickelt haben – das jede Gesellschaft durchzieht, von deren Angehörigen jedoch zumeist als solches nicht erkannt, sondern mitläuferisch als das Gute, Wahre und Schöne wahrgenommen wird. Und eben dieses Dreigestirn umflort bis heute mächtig die ehemalige Kanzlerin, die vielen rückblickend immer noch als überlegte, gewissenhafte und treusorgende „Mutti“ der Nation erscheint.
Von diesem Mythos aber bliebe „bei einer funktionierenden vierten Gewalt, kein Stein auf dem anderen“, ist sich Tellkamp sicher, und in diesem Licht sieht er Mais Buch, das der realen Merkel auf die Spur kommt und diese dem von den Medien gezeichneten „Mama Merkel“-Bild entgegenstellt.
Die echte, unverhüllte Merkel findet sich in ihrer Jugend, als die Schülerin, später die Physikstudentin, das Terrain erkundet: Distanziert, verschlossen, sondierend beschreibt sie Mai, beseelt vom „Wunsch die Nummer 1 zu sein“. Für andere Menschen interessiere sie sich nur, um sie einschätzen zu können, sich selbst offenbart sie aber nicht, um nicht angreifbar zu werden. Als sie einmal in einer Russischvorlesung heimlich Physikaufgaben löst, meldet sie ein Kommilitone und der Professor wirft sie raus: Vor aller Augen muß Merkel aufstehen und durch den Saal hinaus gehen. Eine peinigende Erfahrung für sie, die sich fürchtet anzuecken, unangenehm aufzufallen.
Die CDU entsprach Merkel, eine Partei ohne Bekenntnis und Vision
All das erkennen Mai und Tellkamp auch bei der späteren Politikerin, zu der sie ab 1989 wird. Tellkamp widerspricht der populären These, im Grunde sei Merkel eine Linke oder Grüne, die nur zufällig in der CDU gelandet sei: „Die Vision der Grünen mag einem gefallen oder nicht, aber sie haben eine.“ Und „in der SDP (der 1989 wiedergegründeten Ost-SPD) waren Leute wie Rolf Schwanitz, die offen widersprachen“.
Die CDU dagegen, als Partei ohne Bekenntnis und Vision, entspreche Merkels Wesen: Politik nicht als Auftrag, sondern – „nachdem klar war, daß es mit dem Physiknobelpreis nichts wird“, wie Mai ironisch bemerkt – als Weg zum ersehnten Siegertreppchen. So erkläre sich auch später ihr Kurs als Kanzlerin: „Sie fragte sich nicht, was gut oder schlecht für das Land ist, sondern was ihr nützt“, erklärt der Biograph.
Und ebenso demontiert er ihr Bild als harmlose Polit-Jungfer, als „Kohls Mädchen“, wie sie ab 1991 zunächst bekannt wurde, später dann als die friedliche Hausfrau des Kanzleramts: „Merkel offenbarte einen Machtwillen und eine Kaltblütigkeit, wie man sie weder bei Wolfgang Schäuble fand, noch bei Friedrich Merz“, der ihr bekanntlich 2004 endgültig wich.
Die pathetischste, erratischste, unberechenbarste Person im Amt des Kanzlers
Nichts sei irriger, greift Tellkamp die Grundthese von Mais Biographie auf, als Merkels Wahlkampfspruch „Sie kennen mich!“, der ihr Markenzeichen beschreibt: Auch nach 16 Jahren Kanzlerschaft kennen die Deutschen Merkel nicht, hätten nicht durchschaut, daß sich hinter dem Image „der guten Mutti“, bescheidenen Frau und rationalen Physikerin tatsächlich die „pathetischste, erratischste, unberechenbarste“ Person im Amt des Kanzlers verborgen habe, die jede Wende des Zeitgeistes skrupellos mitmachte. Und so vermutet Klaus-Rüdiger Mai, in ihrer Autobiografie werde Merkel sich wohl opportun „als Frau darstellen, die sich gegen die Männer und das Patriarchat“ durchgesetzt habe.
Deshalb hat der Europaverlag entschieden, „Angela Merkel. Zwischen Legende und Wirklichkeit“ am kommenden Dienstag herauszubringen und damit am gleichen Tag an dem auch Merkels „Freiheit. Erinnerungen 1954-21“ erscheint: Auf daß, so Verleger Strasser kämpferisch, „nichts verklärt und nichts vergessen wird“.