In dem Willen, überkommene Herrschaftsverhältnisse zu sprengen, eine zivilisatorische Neuausrichtung auf den Weg zu bringen, durch Duldung und Förderung von Migration eine multikulturelle Gesellschaft zu etablieren, eine für Industrieländer vorbildliche klimaverträgliche Energiewende zu bewerkstelligen, Diskriminierungen abzuschaffen und überhaupt die gesamte Welt im allgemeinen Menschheitsinteresse gerechter zu gestalten, haben sich Wohlmeinende zusammengefunden, ihre politische und mediale Macht zu nutzen, um Wirtschaft und Gesellschaft von Grund auf umzugestalten. Dabei scheuen sie sich nicht, zentrale „Gewißheiten“ in Abrede zu stellen, die zu bezweifeln außerhalb von philosophischen Seminaren niemandem einfiele.
Die Größe, Dignität und Dringlichkeit der Aufgabe, so glauben die Aktivisten, rechtfertigt die Übernahme eines erheblichen Risikos. Dabei folgt man der Idee, Wirtschaft und Gesellschaft neu und zugleich menschengemäß konstruieren zu können. Qua besserer Einsicht, die man sich selbst zuschreibt, fühlt man sich berufen, soziale Praktiken zu desavouieren, auf denen unser aller Leben beruht.
Masseneinwanderung als Instrument für einen Systemwandel
Ob diese aktivistische Elite überhaupt daran interessiert ist, den freiheitlichen Staat mit einer Wirtschaft des privaten Unternehmertums zu erhalten, ist allerdings ungewiß. Insoweit ist auch über eine alternative beziehungsweise ergänzende Deutung nachzudenken: Möglicherweise wird die unkontrollierte Masseneinwanderung, die zu einer Verschärfung von Verteilungskämpfen und zu neuartigen gesellschaftlichen Konflikten führen wird, von ihren linken Protagonisten auch in der Erwartung begrüßt, die mit dem Zusammenbruch des europäischen Kommunismus eigentlich für beantwortet gehaltene „Systemfrage“ neu aufrollen zu können.
Eines der zentralen Projekte des kulturellen Hegemons ist die Transformation der ethnisch und kulturell relativ homogenen Gesellschaft in eine multiethnische und multikulturelle Gesellschaft. Das entscheidende Stellglied, das es erlaubt, diese Transformation dem Volke in historisch kurzer Zeit aufzuzwingen, ist eine teils dankbar hingenommene, teils gezielt organisierte Masseneinwanderung aus allen Teilen der Welt. Die damit verbundene Islamisierung des Landes und Europas wird als eine – wie man meint – beherrschbare oder sich auswachsende Kollateralwirkung akzeptiert.
Die Spaltung wird voranschreiten
Eine anhaltende Einwanderung dieser Form und des gegenwärtigen Ausmaßes wird jedoch das Gemeinschaftsgefühl der auf dem Territorium Deutschlands lebenden Menschen in kürzester Zeit dramatisch verändern. Die Spaltung der Gesellschaft wird noch schneller voranschreiten. Eine solche Spaltung aber hat Konsequenzen für die Bereitschaft, sowohl für das Land persönliche Opfer zu bringen als auch Solidarität mit den Landesgenossen zu üben. Ein sich verflüchtigender Gemeinsinn und eine schwindende Bereitschaft, sich in öffentlichen Angelegenheiten zu engagieren, sind Anzeichen gesellschaftlicher Auflösung.
Ein weiteres und ebenfalls bereits auf den Weg gebrachtes Projekt ist die gesellschaftliche Etablierung linksidentitärer Maßstäbe des richtigen Denkens und Sprechens sowie die Umgestaltung des gesamten politischen und gesellschaftlichen Lebens entsprechend der von identitären Linken vorgegebenen Richtlinien. Das alles überwölbende langfristige Projekt gipfelt schließlich in der Auflösung der Nationalstaaten.
Dazu bedarf es immer durchlässiger werdender Grenzen, einer Verwässerung des Staatsbürgerschaftsrechtes und damit einer Quasi-Universalisierung des Wahlrechtes, einer schrittweisen Entmachtung des nationalen Gesetzgebers zugunsten supranationaler Körperschaften sowie des weiteren Ausbaues eines illiberalen Gesinnungsstrafrechtes.
Eine freiheitliche Gesellschaft braucht keine Staatsideologie
Der kulturelle Hegemon arbeitet an diesen Projekten. Ein Masterplan und eine ausdrückliche Verabredung sind dazu nicht erforderlich. Eine in ihrem Kernanliegen übereinstimmende politisch-moralische Grundorientierung einer relevanten Menge national und international vernetzter politischer Akteure sorgt für ein gleichgerichtetes, koordiniert erscheinendes Vorgehen. Ausdrückliche Verständigungen über eine gemeinsame Agenda sind deshalb nicht ausgeschlossen.
Ein freiheitlicher Staat darf sich – demokratietheoretisch gesprochen – mit keinem ganzheitlichen Ideensystem religiöser oder weltanschaulicher Art identifizieren. Es gibt keine Instanz, die in Fragen der Weltdeutung oder der Sinnbestimmung des individuellen Lebens ein verbindliches Urteil fällen könnte.
Der freiheitliche Staat hat kein Mandat zur Neugestaltung der Gesellschaft. Weder seine gesetzgebenden noch seine ausführenden und rechtsprechenden Organe sind dazu berufen, das Brauchtum der Gesellschaft zu schleifen, wirkmächtige Sitten für obsolet zu erklären, kulturhistorisch begründete Überzeugungen zu kriminalisieren und neue Präferenzregeln oder Moralvorstellungen zu definieren – also ihre überkommene „Hintergrundideologie“ nach eigenen Vorstellungen neu zu konfigurieren. Über Entscheidungen dieser Art wird in Wahlen nicht befunden.
Kernaufgaben und ethisches Minimum
Oder, anders gesagt: Auch gewählte Politiker haben mit ihrer Wahl keine Legitimation zur Revision der Grundstruktur der Gesellschaft oder zur Beseitigung von Institutionen oder Traditionen erhalten, die das Leben und die kooperativen Beziehungen in einer grundlegenden Weise prägen. Wie die Umgestaltung Deutschlands in ein Einwanderungsland allein durch Regierungsentscheidungen würde zum Beispiel auch die Abschaffung des Bargeldes gegen das unmittelbare Mitspracherecht des Volkes bei entwicklungspfadbestimmenden Grundsatzentscheidungen verstoßen.
Das Prinzip der weltanschaulichen Neutralität verpflichtet den freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaat, sich auf die Erfüllung elementarer Gemeinschaftsaufgaben, gleichsam die letzten Zwecke des Staates (Sicherung des Bestandes und der Funktionsfähigkeit des Staates, Wahrung des inneren Friedens, Bestandssicherung im Außenverhältnis, Gewährleistung der Grundrechte der Einzelnen) zu beschränken und sich dabei an einem ethischen Minimum zu orientieren.
Der Staat und staatlich alimentierte Medien haben nicht die Aufgabe, die Bevölkerung auf bestimmte Zukunftsentwürfe mental einzustellen, die durch ein ideologiegetriebenes Handeln von gesellschaftlich einflußreichen Akteuren realisiert werden sollen.
Öffentlich-Rechtliche Medien dürfen kein Agenda-Setting betreiben
Es kann daher auch nicht als eine Aufgabe des freiheitlichen Staates betrachtet werden, seine Bürger zu moralisch hochwertigen Menschen zu erziehen. Weder ihm noch staatlich finanzierten Medien steht es zu, ein sogenanntes Agenda-Setting zu betreiben, um die Aufmerksamkeit der Massen auf Themen zu lenken, die in einem solchen Zusammenhang als wichtig erscheinen. Ein freiheitlicher Staat ist aus demokratietheoretischer Sicht ausschließlich dazu legitimiert, Maßnahmen zu ergreifen, die der Selbstbestimmung sowie der Bewahrung der Voraussetzungen der Selbstbestimmung dienen – und dazu gehört auch, die Bedingungen zu sichern, die es dem Einzelnen ermöglichen, seine materielle Existenz zu reproduzieren.
Eine die Hebel der staatlichen und medialen Macht betätigende Elite ist nicht legitimiert, die noch bestehende ethnische Homogenität einer Gemeinschaft sowie deren gewachsene Kultur ohne qualifizierte Zustimmung des jeweiligen Volkes aufzulösen oder nach eigenem Gutdünken für mehr „Diversität“ und „Vielfalt“ zu sorgen.
Derartige Eingriffe in die Grundstruktur einer Gesellschaft und insbesondere ihre ethnische Zusammensetzung sind durch den bloßen Wahlerfolg bei Parlamentswahlen ohnehin nicht legitimiert; dies gilt aber vor allem dann, wenn sich die „Zustimmung“ in einem relevanten Umfang der propagandistisch-manipulativen Einflußnahme der Elite auf das Wahlverhalten des Demos verdankt.
Freie Bürger haben das Recht auf dumme Meinungen
Ein Staat hingegen, der sich dazu versteht, auf die Überzeugungsbildung der Bürger steuernd einzuwirken, wird nicht davor zurückschrecken, die dazu passenden gesinnungstreuen Bekenntnisse einzufordern. Damit jedoch bewegte man sich in einem Fahrwasser, das bisher nur von totalitären Diktaturen beschifft wurde. Weltanschauungsdiktaturen formen sich immer auch zu Bekenntnisgemeinschaften. In ihnen ist man nicht schon mit einem ideologiekonformen Verhalten auf der richtigen Seite; in ihnen wird auch ein Bekenntnis zur herrschenden Lehre, zur Partei, zum Staat – zu „unseren Werten“ verlangt. Eine Erziehung erwachsener Bürger durch den Staat mündet tendenziell in eine totalitäre Ordnung.
Im Unterschied zu ideologiegeleiteten Herrschaftssystemen begreift sich ein freiheitlicher Staat eben nicht als Erzieher. Er legt es nicht darauf an, daß unsinnige oder ungehobelte Meinungen möglichst ungehört aus der Öffentlichkeit verschwinden, sondern setzt auf das Obsiegen der Vernunft im politischen Diskurs. Der freiheitliche Staat ist der Anwalt des Projektes der Aufklärung – der Überzeugung, daß der öffentliche Vernunftgebrauch letztlich zu den brauchbarsten Problemlösungen führt. Und da ein freiheitlicher Staat nicht als Volkserzieher auftritt, betätigt er sich auch nicht als Förderer des Denunziantentums.
Wenn Regierungen in repräsentativen Demokratien Herrschaft nur deshalb rechtmäßig ausüben können, weil sie in demokratischen Wahlen gewählt wurden, dann kann es ihnen nicht zugleich erlaubt sein, den Wählerwillen zu manipulieren. Das rechtlich institutionalisierte Verfahren, in dem der Souverän seine Repräsentanten bestellt, kann seine Legitimität erzeugende Kraft nur dann entfalten, wenn die vorgängige Meinungs- und Willensbildung nicht durch Bedingungen kontaminiert war, die systematisch verhinderten, daß die besseren Argumente obsiegten.
Die westliche Demokratie steht am Scheideweg
Der Akt der Legitimation eines demokratischen Herrschaftssystems ist nicht unabhängig von der Art und Weise, wie die dafür erforderliche Zustimmung zustande gekommen ist. Die zu Wählenden und ihre Unterstützer können auf die Urteils- und Willensbildung der Wähler nicht in beliebiger Weise Einfluß nehmen, ohne die Legitimationskraft der Zustimmung zu entwerten. Die objektiv gefährlichsten Feinde der Demokratie finden sich gegenwärtig in der politisch-medialen Elite. Es sind die geistigen Stichwortgeber, die ideologischen Einpeitscher, die den Wähler in seinem Denken und Wollen manipulieren und zu dominieren versuchen. Sie sind es, die den freiheitlich-demokratischen Staat aktiv und aggressiv tagtäglich bekämpfen.
In Deutschland und vermutlich in allen Staaten des demokratischen Westens sind Formen politischer Machtausübung entstanden, die – gemessen an den Prinzipien eines freiheitlichen Staates – als illegitim zu gelten haben. Die Bürger dieser Länder leben in Staaten, die in dem Sinne übergriffig geworden sind, als sie Mittel der Herrschaftssicherung einsetzen, die die unverzichtbaren Bedingungen einer freien Selbstbestimmung der Menschen zerstören.
Die westlichen Demokratien sind dergestalt in einen Funktionsmodus geraten, der sie auf einer schiefen Ebene in eine Staatsform abgleiten läßt, die mit den herkömmlichen politikwissenschaftlichen Begriffen nicht mehr adäquat faßbar ist. Sie stehen heute vor der existentiellen Herausforderung, diesen Weg in die Selbstzerstörung zu verlassen. Dies heißt, daß die Voraussetzungen wiederherzustellen sind, unter denen freiheitliche demokratische Staaten Legitimation gewinnen können.
Prof. Dr. Lothar Fritze, Jahrgang 1954, Philosoph und Politologe, war zwischen 1993 und 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden und lehrte als außerplanmäßiger Professor an der TU Chemnitz.