Die vom Verteidigungsministerium (BMVg) herausgegebenen „Ergänzenden Hinweise zum Traditionsverständnis“ der Bundeswehr haben gerade mal einen Monat Bestand gehabt. Herr Lucassen, Hand aufs Herz, was hat Sie mehr überrascht: Daß man in der Traditionspflege ein größeres Augenmerk auf „militärische Exzellenz und klassische soldatische Tugenden“ legen wollte – oder daß man die ganze Sache so schnell wieder außer Kraft gesetzt hat?
Rüdiger Lucassen: Ersteres, muß ich leider sagen. Generale wie Kai Rohrschneider wissen zwar um die Bedeutung von militärischer Tradition und soldatischen Vorbildern aus Zeiten des Kampfes und des Krieges, doch konnte ich in sieben Jahren Verteidigungsausschuß immer wieder erleben, wie die Generalität sich dem Primat der politischen Korrektheit unterwarf. Gegen den Geist der Entmilitarisierung der Bundeswehr seit Ursula von Leyen hat sich niemand widersetzt. Daß der Abteilungsleiter Einsatzbereitschaft dann doch ein solches Papier herausgegeben hat, hätte ich tatsächlich nicht mehr erwartet. Ein guter Ansatz.
Die verschämte Zurücknahme der „Ergänzenden Hinweise“ durch das BMVg, nach dem die JF darüber berichtete, war für mich hingegen erwartbar wie der tägliche Sonnenuntergang. Die politische Leitung des Verteidigungsministeriums kann die immateriellen Bedürfnisse unserer Soldaten nicht verstehen.
Können Sie die Aufregung darüber und das Einknicken der Generalität nachvollziehen – immerhin haben diese nun zurückgezogenen „Hinweise“ den Traditionserlaß Ursula von der Leyens aus dem Jahr 2018 ja ausdrücklich nicht ersetzt, sondern lediglich ergänzt?
Lucassen: Ich kann die ganze Labilität um die Tradition der Bundeswehr insgesamt nicht nachvollziehen. Benennen wir es klar: Es geht um die Wehrmacht. Mit der möchte die heutige politische Führung nichts mehr zu tun haben. Das geht aber nicht. Sie ist Teil unserer deutschen Geschichte, insbesondere unserer Militärgeschichte. Ohne die Wehrmacht hätte die Bundeswehr nicht entstehen können. Der erste Generalinspekteur, Adolf Heusinger, kam ja nicht aus dem Kloster. Er war 30 Jahre Soldat in drei deutschen Armeen und zeitweise Hitlers Generalsstabschef des Heeres. Was machen sie jetzt im Jahr 2024 mit einer solchen Biografie? Bilder abhängen? Kaserne umbenennen?
Oder den Trägern des General-Heusinger-Preises die Urkunden wegnehmen? Diese Hysterie ist natürlich Unsinn. Meine Antwort: Gebildete Menschen kommen mit den Brüchen unserer deutschen Geschichte klar und hören auf, sie nachträglich ausradieren zu wollen. Wenn sie diesen Irrsinn nämlich konsequent zu Ende denken, sind bald auch Konrad Adenauer, Franz Josef Strauß und Helmut Schmidt dran. Die haben nämlich auch Dinge getan und gesagt, die den Kevin Kühnerts und Katrin Göring-Eckardts dieser Republik nicht gefallen.
Lucassen: „Der Kämpfer von heute braucht den Kämpfer von früher“
Der frühere Verteidigungsminister Manfred Wörner (CDU) sagte einmal, daß „militärische Tapferkeit, unabhängig von der übrigen Persönlichkeit und vom historischen Zusammenhang ein Wert an sich“ sei. Solch eine Aussage würde heute einen Shitstorm zur Folge haben. Müßte Ihrer Meinung nach diesbezüglich wieder eine Rückbesinnung stattfinden – und wenn ja, warum?
Lucassen: Die Bundesregierung hat sich dafür entschieden, den Begriff „Kriegstüchtigkeit“ auf den Markt zu werfen. Die Bundeswehr ist zwar 70 Jahre sehr gut mit dem Wort „verteidigungsbereit“ ausgekommen, aber darum soll es jetzt nicht gehen. Wenn ich also „kriegstüchtige“ Streitkräfte möchte, muß ich mir doch die Frage stellen, wie ich Soldaten dazu bringe, ihr Leben an einer bomben- und granatenverseuchten Frontlinie zu riskieren.
Was also bringt den 19jährigen Panzergrenadierobergefreiten dazu, in seinen Schützenpanzer zu steigen und auf eine russische Panzerdivision zuzufahren? Mit einer statistischen Überlebenswahrscheinlichkeit von sechs Stunden. Denn darum geht es im Ernstfall. Dafür braucht der Kämpfer von heute den Kämpfer von früher. Er braucht ein Bild vor seinem geistigen Auge, das ihm den Weg zu Mut, Tapferkeit und Sieg weist. Ich denke, jeder Soldat weiß, daß dies nicht mit dem Grundgesetz in der Tasche und dem Spruch „Vielfalt ist unsere Stärke“ gelingt.
Sie waren selbst viele Jahre Soldat und haben auch noch die Bundeswehr des Kalten Kriegs kennengelernt. Wie haben Sie da den Umgang mit Tradition in der Truppe erlebt, was wurde Ihnen beigebracht oder vorgelebt – und wie haben Sie später als Vorgesetzter das Thema Ihren Untergebenen gegenüber vermittelt?
Lucassen: Die Bundeswehr des Kalten Krieges war das, was die Ampel heute will, aber nicht schafft: Die Bundeswehr war kriegstüchtig. In meinem Kampfhubschrauberregiment hatten wir immer Klarstände von mindestens 70 Prozent. Wir waren bereit, gegen den Warschauer Pakt zu fliegen und Panzer zu vernichten. Die Heeresfliegertruppe entstand allerdings erst in den späten 50er Jahren und hatte dadurch keine direkte Verbindungslinie zur Wehrmacht. Der erste Kampfhubschrauber kam sogar erst 1981. Daher konnten militärische Vorbilder aus dem Zweiten Weltkrieg bei uns nicht so eine große Rolle spielen wie etwa bei den Fallschirmjägern oder den Panzeraufklärern. Bei denen waren Namen wie Hermann-Bernhard Ramcke und Georg von Boeselager omnipräsent.
Die Bundeswehr insgesamt hatte ein sehr entspanntes und aufgeklärtes Verhältnis zu ihrer Vorgängerarmee. Militärische Exzellenz und Tapferkeit wurden bewundert und verehrt. Die Kasernen waren voll mit Erinnerungsstücken und Lehrbeispielen aus der Kampfführung des Zweiten Weltkriegs. Und trotzdem gab es in all den Jahrzehnten der Bundeswehr nie Zweifel daran, daß unsere Soldaten Soldaten der Bundesrepublik Deutschland waren. Mein Eindruck ist, je weiter der Zweite Weltkrieg zurückliegt, desto mehr möchten gewisse Nischengruppen des öffentlichen Diskurses ihn nachträglich verhindern.
„Bundeswehr mußte noch keinen Verteidigungskampf bestehen“
Inwieweit spielte dabei auch eine Rolle, daß Ihr Vater im Zweiten Weltkrieg Offizier war?
Lucassen: Mein Vater war Berufssoldat und bei Kriegsende Bataillonskommandeur im Fallschirmjägerregiment 1. Mit diesem Regiment hat er auf allen wesentlichen Kriegsschauplätzen gekämpft. Frankreichfeldzug, Kreta-Landung, die schweren Kämpfe im Osten. Am eindrücklichsten war für ihn allerdings die Schlacht am Monte Cassino. Die Artillerie-Übermacht der Amerikaner zwang ihn und seine Männer, drei Tage in ihren Schützenmulden zu kauern. Die Sonne verbrannte ihm dabei die Hüfte, weil er sich wegen der Dichte des Granathagels nicht drehen konnte. Ein Schrapnell traf ihn dann noch an der Schläfe und drang in den Schädel ein. Schwerer wog für ihn allerdings der Verlust seiner Männer.
Wie viele Veteranen sprach mein Vater nach dem Krieg eher selten über seine Erlebnisse. Er war keineswegs traumatisiert, verschrieb sich nur voll und ganz dem Wiederaufbau nach dem Zusammenbruch. Er führte die Überlebenden seiner Familie zusammen, baute ein kleines Unternehmen auf und genoß das Leben. Seine Kriegserlebnisse teilte er vor allem mit den Männern dieser Zeit. Da durfte ich abends oft mit dabeisitzen und lauschen, aber mit geschlossenem Mund. Vorlaute Kinder, die der älteren Generation erklären, wie man politisch korrekt lebt, waren damals nicht sonderlich beliebt.
Gab es da zuhause auch Diskussionen über das Spannungsfeld von soldatischen Tugenden wie Tapferkeit, Gehorsam, Pflichterfüllung einerseits und dem Gewissen andererseits?
Lucassen: Nein. Solche Diskussionen sind aus meiner Sicht auch stets Teil einer akademischen Debatte gewesen, die die Bundesrepublik erst wesentlich später erreichte. Der Krieg, das wurde aus den Schilderungen meines Vaters deutlich, verlangt nach Tapferkeit, Treue und Pflichterfüllung. Daß im Krieg auch manch Falsches und manch Verbrecherisches geschieht, war auch der Wehrmachtsgeneration bewußt. Sie mußten es akzeptieren, weil die Zeit es von ihnen verlangte.
Nun taucht in der Debatte immer wieder das Argument auf, die Bundeswehr solle sich ausschließlich auf ihre eigene Tradition berufen und Vorbilder in ihren eigenen Reihen suchen – angesichts ihrer fast 70jährigen Geschichte und zahlreicher Auslandseinsätze samt Gefechten. Halten Sie den Gedanken für sinnvoll – oder was spricht Ihrer Meinung nach dagegen?
Lucassen: Die Bundeswehr mußte noch keinen Verteidigungskampf für unser Land bestehen. Wer die Lage in der Ukraine verfolgt, bekommt eine Ahnung, was das bedeutet. Den kämpfenden, tötenden und sterbenden Kampftruppensoldaten wird es dafür nicht reichen, auf die Tradition von Soldaten einer Friedens- und Einsatzarmee zu blicken. Soldaten wie der Jagdflieger Werner Mölders, der U-Bootkommandant Günther Prien oder der Panzerkommandant Otto Carius sind deswegen unverzichtbar, weil sie genau das taten, was auch heutigen Flugzeugführer, U-Bootkommandanten und Panzerzugführer tun müßten. Sie müßten feindliche Kampfjets, Schiffe und Panzer erfolgreich bekämpfen und zerstören. Und zwar so lange, bis der Feind von seiner Absicht abläßt, also bis die Bundeswehr gesiegt hat.
So wenig wie Soldaten einer Friedensarmee können auch die Missionen in Afghanistan oder Mali ein adäquater Ersatz für eine traditionsbasierte Identifikation für den Krieg sein. Es ging in diesen Einsätzen nie um Sieg oder Niederlage. Ich möchte die Leistungen der Soldaten in diesen Einsätzen mitnichten schmälern, aber es ist eben etwas anderes, um das Fortbestehen des eigenen Landes zu ringen, als eine Taliban-Guerilla örtlich und zeitlich begrenzt niederzuhalten.
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Rüdiger Lucassen, Jahrgang 1951, ist seit 2017 Mitglied des Bundestags, Verteidigungspolitischer Sprecher der AfD-Fraktion und deren Obmann im Verteidigungsausschuß. Zuvor war er über 30 Jahre Berufsoffizier in der Bundeswehr, zuletzt als Oberst im Generalstabsdienst.