Die 1941 veröffentlichte Biographie seines Lehrers Ernst Troeltsch beginnt der Heidelberger Kirchenhistoriker Walther Köhler mit einer Anekdote. Auf einem Theologentreffen, 1896 in Eisenach, sei nach dem Ende eines konventionell gelehrten, etwas scholastischen Vortrags ein junger Mann, Ernst Troeltsch, mit jugendlichem Elan aufs Katheder gesprungen und habe zum Entsetzen der Alten die Aussprache über das Gehörte mit den Worten eröffnet: „Meine Herren, es wackelt alles!“
Was damit gemeint war, offenbart sich erst im 21. Jahrhundert in seiner ganzen Dramatik. So wie sie die vor vier Wochen auf der EKD-Synode in Ulm präsentierte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung dokumentiert. Laut dieser größten religionssoziologischen Studie, die jemals hierzulande durchgeführt wurde, lasse sich nur bei dreizehn Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung noch eine „kirchlich-religiöse Einstellung“ nachweisen.
Die absolute Mehrheit der Befragten sei dagegen „säkular orientiert“, 36 Prozent vertreten gar ein „strikt naturalistisches, beinahe religionsfeindliches Weltbild“. Bei den evangelischen Kirchenmitgliedern schlösse nur noch ein Drittel einen Austritt aus, bei den etwas glaubensfesteren Katholiken bekundeten das auch nicht eben beruhigende 27 Prozent.
Die „lange Dauer“ der europäischen Entchristlichung
Mit den aktuellen Krisen der einstigen Volkskirchen, so versichern die Studienautoren, habe das Ergebnis aber kaum etwas zu tun. Die Kirchen leeren sich weder wegen katholischer „Mißbrauchsskandale“ und römischer Reformblockaden noch aufgrund der hemmungslosen Anpassung an den „woken Zeitgeist“, den Gottes protestantisches Bodenpersonal als Einpeitscher der Massenzuwanderung und als Prediger der „Klimarettung“ vollziehe. Dieses politische Engagement sei sogar „der seltenste Austrittsgrund überhaupt“.
Wer also bei der Ursachenforschung tiefer graben möchte, muß deshalb die „lange Dauer“ des europäischen Prozesses der Entchristlichung ins Auge fassen. Der das Lebensthema des Systematischen Theologen, Geschichts- und Kulturphilosophen Ernst Troeltsch (1865–1923) war. Die Gegenwartsrelevanz der von Friedrich Wilhelm Graf vorgelegten Biographie zum 100. Todesjahr dieses Titanen der wilhelminischen Gelehrtenwelt liegt somit auf der Hand. Der Münchener Emeritus, seit Jahrzehnten der Motor der Troeltsch-Forschung, widmet sich daher zunächst in erfreulicher Ausführlichkeit der weltanschaulichen Lage um 1900, auf die Troeltschs Eisenacher Alarmruf antwortete.
Es „wackelte“ damals nicht nur das Lehrgebäude der protestantischen Theologie, sondern es vollzog sich mit dem „Historismus“, der sich im 19. Jahrhundert in allen Kulturbereichen durchsetzte, eine Denkrevolution der Moderne. Mit der Gewöhnung daran, die Wirklichkeit historisch zu betrachten, ging die verunsichernde Einsicht in die geschichtliche Relativität aller kulturellen Phänomene einher, einschließlich des christlichen Glaubens und der von ihm vermittelten Normen und Werte.
Was hält eine zunehmend pluralistische Gesellschaft zusammen?
Das kardinale Problem, wie christliche Glaubenswahrheiten das Säurebad des Relativismus überstehen und in den wissenschaftlich-rationalistisch geprägten Denk- und Gefühlsordnungen der säkularen Industriegesellschaft ihre „Modernitätsfähigkeit“ und „Lebensdienlichkeit“ behaupten können, packte der Universalist Troeltsch als Theologe, Philosoph, Historiker, Soziologe und nicht zuletzt auch als politischer Publizist, Parlamentarier und praktischer Politiker an.
Denn die multiple weltanschauliche Krise des Relativismus blieb nicht auf den ideologischen Überbau der Kirchen und Universitäten beschränkt. Sie erschütterte das gesamte ideelle Fundament der Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs, dessen kulturelle Homogenität bis an die Schwelle der Industrialisierung vom Christentum garantiert worden war.
Angesichts der Auflösung dieser Einheitlichkeit stellte sich für Troeltsch, der sich als „politischer Professor“ verstand, der im Ständehaus des Großherzogtums Baden die Heidelberger Universität vertrat, der sich als Berliner Ordinarius während des Ersten Weltkriegs rege am „Krieg der Geister“ beteiligte und der seit 1919 als Staatssekretär im Preußischen Kultusministerium für Kirchenpolitik zuständig war, in all seinen Funktionen stets die Frage: Was hält eine zunehmend pluralistische Gesellschaft zusammen, wenn der Eigennutz der Parteien und Interessengruppen keinen Platz für Sachwalter des Ganzen mehr zu lassen schien?
Troeltsch hielt an der Religion fest
Da das Nationalbewußtsein, das Konservativen und dem Gros seiner nationalliberalen Parteifreunde als Mittel der Wahl zur Integration der semiabsolutistisch regierten preußisch-deutschen Klassengesellschaft favorisierten, Troeltsch nicht genügte, da er es nicht als „höchsten Kulturwert“ akzeptierte, hielt er an der christlichen Religion in „modernisiertem“ Gewand fest. Zwar sei die „Absolutheit des Christentums“ preiszugeben, aber aus der Perspektive der von ihm einst mitbegründeten „Göttinger religionshistorischen Schule“ konnte ihm nicht zweifelhaft sein, daß das Christentum der Höhepunkt der bisherigen Religionsentwicklung der Menschheit war, weil es die höchste Form der persönlichen Erlösungsreligion erreicht habe. Folglich komme einer solchen, wie die noch junge zeitgenössische Religionspsychologie nachgewiesen habe, „realitätstauglichen“ Religion eine sinnstiftende, Gemeinschaft stabilisierende Funktion in einer Massengesellschaft zu.
Während der Verfasser diesen geistesgeschichtlichen Kontext mit Akribie und didaktischem Talent so vorzüglich rekonstruiert, daß die Lektüre zum lehrreicher Genuß wird, weisen seine zeithistorischen Partien von 1914 über Troeltsch als Kriegsautor an der Heimatfront und als Streiter in der „Judenfrage“ leider auf Grafs starke Verhaftung in den Klischees historisch-politischer Korrektheit hin.