Lieblingsbeschäftigung deutscher Intellektueller: hochnäsig ihr eigenes Volk durch den Kakao ziehen mit einem Ausspruch des Bolschewisten Lenin. Dieser mokierte sich 1918 über die Revolutionsunlust der Deutschen, sie lösten erst brav am Schalter eine Bahnsteigkarte, bevor sie einen Bahnhof stürmten. Indes beweisen Deutsche 35 Jahre später, am 17. Juni 1953, das Gegenteil. In der gesamten DDR, flächendeckend in über 500 Städten und Gemeinden, gehen anderthalb Millionen Menschen auf die Straße, stürmen Rathäuser und Behörden. Der Historiker Hubertus Knabe würdigt den 17. Juni als „erste Massenerhebung gegen ein totalitäres Regime in der Geschichte“.
Noch vor den großen Aufständen im russischen Workuta 1953, in Ungarn 1956, der Tschechoslowakei 1968 oder der Solidarność in Polen gingen die Deutschen auf die Barrikaden – gegen das kommunistische Zwangssystem, für demokratische Wahlen und die Wiedervereinigung Deutschlands.
SED hatte die Deutschen nie hinter sich
Ohne das Eingreifen der sowjetischen Truppen – und wohlgemerkt das Stillhalten der Westmächte – hätte der 17. Juni das Ende der SED-Herrschaft besiegelt. Erst die Panzer der Roten Armee konnten den Aufstand blutig niederwerfen.
Bis 1989 war der 17. Juni das Trauma der SED. Sie vergaß nie, sie hatte die Deutschen nicht hinter sich. Nicht auf der Zustimmung des Volkes, sondern auf 500.000 Sowjetsoldaten und einem immer engmaschigeren Überwachungs- und Unterdrückungssystem fußte die Macht des „Arbeiter- und Bauernstaates“. Als Sowjetrußland auf den Bankrott zusteuerte, zerfiel auch die Macht der SED. Die friedliche Revolution von 1989 war mit dem 17. Juni verbunden.
Des Aufstands am 17. Juni wird nur halbherzig gedacht
Warum ist Deutschland – in Gestalt seiner politisch tragenden Kräfte – nicht in der Lage, diesem herausragenden Datum der deutschen Geschichte einen herausgehobenen Platz einzuräumen? Warum gibt es nur wenige, versteckte und stiefmütterliche Erinnerungsorte an diese deutsche Erhebung? Warum gibt es kein großes deutsches Freiheitsmuseum in Berlin?
Trotz der späten, gerade noch rechtzeitigen Wiedervereinigung 1990 hat die den gesellschaftlichen Diskurs bestimmende politische Klasse sich nicht damit angefreundet, daß wir eine Nation sind und sein wollen. Es soll deshalb auch keine positive und bestimmende Nationalerzählung geben. Deshalb wird nicht nur des 17. Juni, sondern auch des 175. Jahrestages der deutschen Revolution von 1848 halbherzig gedacht. Stattdessen dominiert die Erzählung einer historisch widerlegten Nation, deren Geschichte von vornherein auf einen Irrweg ausgelegt war. In dieser Selbstverleugnung wurzelt die neudeutsche Hybris, alle Welt solle es uns gleichtun und sich von der Nation als Ordnungsprinzip verabschieden.