Irgendwann drückt Oleg Glukhov (42) die Aus-Taste seines Handys und sagt: „Angeblich verfolgt Putin jetzt den Plan, die Ostukraine für 15 Jahre zu pachten.“ Glukhov ist Abgeordneter des Regionalparlaments in Chernowitz. „Keine Ahnung, ob diese Information stimmt, aber das ist das neuste Gerücht aus den russisch-ukrainischen Gesprächen.“
Gerüchte gibt es zurzeit viele in der Ukraine. Und sie können gefährlich werden. Oftmals ist nicht klar, wer noch Freund und wer schon Feind ist. Die JUNGE FREIHEIT traf sich in Sachsen-Anhalt mit dem Politiker, der zwischen allen Stühlen sitzt: Nicht nur, weil er Halbrusse ist, sondern weil seine Partei den Ruf hat, pro-russisch zu sein. „Das wird immer falsch verstanden“, widerspricht Glukhov sofort. „Wir sind pro-ukrainisch, sprechen uns jedoch für gute Beziehungen zu Rußland aus.“
Rückblick: 2018 vereinigten unter anderem Jurij Boiko und Wiktor Medwetschuk ihre beiden Parteien „Für das Leben“ und „Oppositionsblock“ und gründeten die Partei „Oppositionsplattform – für das Leben“. 2019 erreichte sie bei den Parlamentswahlen 13 Prozent und wurde zweitstärkste Kraft hinter der Partei „Diener des Volkes“. Die Oppositionsplattform ist seit dem Krieg verboten. Medwetschuk soll aus dem Hausarrest geflohen sein und wird des Hochverrates verdächtigt. „Ein weiterer Mitbegründer, Wadym Rabinowytsch, soll darüber hinaus von der Partei selbst ausgeschlossen worden sein“, sagt Glukhov, „weil er sich zu stark für die ukrainische Seite engagiert.“
Die Grundrente liegt bei 60 Euro
„Früher, als noch Frieden herrschte, dachte ich, daß eine Freihandelszone mit Rußland richtig sei. Denn bis vor acht Jahren waren 75 Prozent des ukrainischen Marktes auf Rußland ausgerichtet. Damals waren die Produkte noch günstiger.“ Doch im Dezember 2015 setzte Putin das Freihandelsabkommen zwischen seinem Land und der Ukraine aus. Hintergrund: Der damalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko hatte seit Monaten schon ein Freihandelsabkommen mit der EU angestrebt. Das übrigens mit folgenden Worten begründet: „Die Ukraine ist sich über den zu erwartenden Schaden für die ukrainische Wirtschaft im Klaren“, zitiert ihn die FAZ am 17. Dezember 2015. Das Blatt weiter: „Aber wir sind bereit, diesen Preis für unsere Freiheit und für unsere Entscheidung für Europa zu zahlen.“
„Und diese Zahlungen sehen jetzt so aus, daß 400 Euro pro Monat in der Ukraine ein guter durchschnittlicher Verdienst ist“, sagt der Politiker. Die untere Grenze liege bei 200 Euro, die Grundrente bei 60 Euro. „Eine Familie mit zwei Kindern benötigt 800 Euro, um die Wohnung, Strom und Gas zu finanzieren, das heißt, beide Elternteile müssen arbeiten. Man lebt von Verdienst zu Verdienst und hat darüber hinaus auch noch Schulden. Wenn ein Arbeitnehmer krank wird, kann es schwierig werden, denn in der Ukraine gibt es keine verpflichtende Krankenversicherung.“
Korruption blieb ein Problem
Doch nicht nur die Preise für die Lebenshaltungskosten stiegen, auch die Korruption nahm mit der neuen Regierung nicht ab. „Amerikaner wollten bei mir im Ort ein Erholungscamp für fünf bis sieben Millionen US-Dollar bauen“, erinnert sich Glukhov. „Als ich bei der Verwaltung nachfragte, wollten sie weitere eine Million US-Dollar von mir haben, damit das Projekt umgesetzt werden kann.“
Wenn er über die Korruption im Land berichtet, fallen Glukhov immer neue Beispiele ein: „Bei einer ukrainischen Motorenbau-Firma hatten Chinesen groß investiert. Die Regierung belegte plötzlich mit schleierhaften Begründungen alle Unternehmen mit chinesischer Beteiligung mit Sanktionen, ist doch klar, daß sie sich zurückzogen. Auch ein Kanadier investierte große Summen in die Ukraine, nämlich in Solarpaneele in Dnipropetrowsk. Mit schleierhaften Begründungen wurden diese aber wieder vom Netz genommen. Der Rechtsstaat gilt in solchen Fällen nicht und das verschreckt Investoren.“ Und er klingt desillusioniert, wenn er sagt: „Insgesamt blieben dieselben Politiker wie vor der Revolution.“
Ob die amtierende ukrainische Regierung durch das Verbot von gleich elf Oppositionsparteien, sich nur Konkurrenz vom Hals schaffen wollte, oder wirklich gefährliche Landesverräter dingfest machen wollte? Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij warnte jedenfalls am 22. März 2022: „Die Tätigkeit von Parteien und deren Politikern, die auf Spaltung und Kollaboration mit Rußland abzielen, werden eine harte Antwort erhalten. Die Ukraine wird niemandem vergeben, nicht vergessen und jeden Verräter zur Verantwortung ziehen.“
Label des Verräters
Glukhov nimmt die Warnung ernst: „Ich war immer pro ukrainisch und habe eine Politik geführt, die sich am Wohlbefinden des ukrainischen Volkes orientiert hat. Im Kriegszustand hat man meiner Partei dann das Label des Verräters aufgeklebt. Es gibt nun auch viele aggressive Nationalisten. Das war auch einer der Gründe, weshalb ich meine Familie in Sicherheit gebracht habe.“ Seine Frau Julia und die drei Töchter acht bis 17jährigen Töchter verließen schon zu Beginn des Krieges die Ukraine über Rumänien, flüchteten dann weiter nach Deutschland. Glukhov setzte sich vergangene Woche ins Auto und fuhr ihnen noch Hausrat und Kleidung ins neue Heim in Sachsen-Anhalt.
„Aber ich fahre wieder zurück und werde bis zum Schluß in meiner Heimat bleiben. Mein Gefühl sagt mir, daß Putin die Ukraine in eine tote graue Masse verwandeln will. Getreu dem Motto: Wenn die Ukraine nicht uns gehört, dann niemanden.“ Da scheint das Bild des ukrainischen Brudervolkes, das Putin gebetsmühlenartig wiederholt hatte, nicht mehr zu stimmen, vielleicht war es niemals wahr? „Nun, von unserer Seite durchaus, immerhin entstand es im Großen Vaterländischen Krieg. Unsere Großväter kämpften gemeinsam in einem Schützengraben. Jetzt stehen wir zwar auch zu Rußland wie zu einem Bruder, aber die Beziehung ist eher wie die zwischen Kain und Abel.“
In der winzigen Wohnung steht seine Frau inmitten von halb zusammengebastelten Bettgestellen für die Kinder. Es ist still, niemand lacht. Zwei kleine Jungs löffeln Spaghetti. Zum Abschied gibt sie die Hand. In ihren Augen schimmern Tränen. Sie weiß, daß ihr Mann womöglich in den Tod fährt.