Die Abendschicht im Erzbergwerk Lengede bei Salzgitter, etwa zwanzig Kilometer südwestlich von Braunschweig gelegen, neigt sich schon dem Ende entgegen. Insgesamt 129 Arbeiter sind zu dieser Zeit unter Tage und haben bald Feierabend. Doch dann bricht an diesem Donnerstag, dem 24. Oktober 1963, um kurz vor acht ein erst vor kurzem gebauter Klärteich ein. Eine Flut von fast 500.000 Kubikmetern Schlamm und Wasser schießt in den Schacht „Mathilde“ hinein. Insgesamt 79 Kumpel können sich unmittelbar danach aus eigener Kraft noch retten oder werden durch ein Wetterbohrloch nach oben gezogen.
Weitere sieben Steiger werden 24 Stunden später gerettet, von ihren Kollegen, die ohne Genehmigung und auf eigene Faust in den gefluteten Schacht eingefahren waren. Nach drei Tagen entdecken die Rettungsmannschaften bei einer Bohrung drei Männer, die dank einer Luftblase das Unglück überlebt haben. Sie werden mit einer sogenannten Dahlbuschbombe, einer torpedoförmigen Stahlröhre, aus fast 80 Metern Tiefe ans Tageslicht geholt.
Rettungsaktion war Medienereignis
Insgesamt sind fast tausend Retter im Einsatz, Grubenwehren, Rotes Kreuz, Technisches Hilfswerk, aber auch der Bundesgrenzschutz und Soldaten der Bundeswehr. Doch nach acht Tagen zieht die Grubenleitung die Kräfte ab und erklärt alle noch Vermißten für tot. Aber erfahrene Steiger setzen Bergwerksdirektor Rudolf Stein unter Druck: Wenn er nicht weitersuchen lasse, würden sie sich an die Presse wenden. Sie sind überzeugt, daß es noch Überlebende geben könnte. Stein lenkt ein, sagt aber: „Ich gebe diesen Bohrungen überhaupt keine Chance auf Erfolg.“ Er irrt.
Am Sonntag, dem 3. November, zehn Tage noch dem Unglück, trifft eine Suchbohrung genau den richtigen Punkt. Elf Männer hatten sich in einen sogenannten „Alten Mann“ retten können, einen ausgeerzten und schon aufgegebenen Schacht, der allerdings einsturzgefährdet war. Ohne Essen und Trinkwasser harrten sie in völliger Dunkelheit 60 Meter unter der Erde aus. „Die klopfen“, verkündete einer aus der Suchmannschaft oben, als er die verzweifelten Hammerschläge am Bohrgestänge wahrnahm. Auf dem mit schwerem Gerät vollgestellten Acker bricht Jubel aus.
Als erstes versorgt man die Eingeschlossenen mit Luft und Nahrung, über herabgelassene Mikrofone gelingt die Verständigung. Die anschließende großangelegte Rettungsaktion wird zum Medienereignis, wie es vergleichbar in Deutschland noch nicht stattgefunden hat. Kamerateams sind live dabei, das ganze Land fiebert mit den Rettern mit. Insgesamt tummeln sich 385 Zeitungsjournalisten sowie 86 Radio- und TV-Reporter aus dem In- und Ausland in dem Örtchen. Sogar das Neue Deutschland, das Zentralorgan der DDR-Staatspartei SED, ist vertreten.
Die Bild-Zeitung gründet eine „Sonderredaktion Lengede“ und mietet ein ganzes Gasthaus an. Die Illustrierte Quick sichert sich die Exklusivrechte an den Berichten der Überlebenden. 48 Pressekonferenzen finden statt. Auf einer von ihnen betont der zuständige Oberstaatsanwalt Erich Topf, daß die – vorschnelle – Todeserklärung der verschütteten Bergleute nur eine Mitteilung der Zeche war und noch keinerlei juristische Relevanz hatte. Für die Übermittlung der Berichte und Reportagen kassiert die Bundespost am Ende 30.000 D-Mark an Gebühren.
Lengede wurde Schlüsselmoment für die junge Bundesrepublik
Doch die Bergung gestaltet sich schwierig, Bohrungen mißlingen. Noch am 6. November titelt die regionale Wolfenbütteler Zeitung: „Rettungschancen stehen 50 zu 50“. Am selben Tag trifft hoher Besuch am Schacht ein. Bundeskanzler Ludwig Erhard (CDU) läßt sich per Hubschrauber einfliegen – „aus menschlichem Verantwortungsgefühl“, wie er mitteilt. Über die Sprechverbindung wendet sich der Regierungschef an seine „lieben deutschen Landleute“ unter Tage und spricht den Eingeschlossenen Mut zu. Es gebe zuversichtliche Nachrichten, daß ihre Rettung bald bevorstehe. „Alle deutschen Herzen sind bei Ihnen in der Tiefe“, versichert Erhard. „Glück auf, Herr Bundeskanzler“, antwortet einer der Steiger unten.
Ich erinnere mich noch gut an ‚das Wunder von Lengede‘(Niedersachsen) am 7. November 1963, als zwei Wochen nach einem Grubenunglück noch 11 Bergleute lebend geborgen werden konnten. pic.twitter.com/N0g5XLIcIA
— H.P. (@Peine01) November 7, 2022
Tatsächlich werden einen Tag später schließlich alle überlebenden Bergleute aus dem Alten Mann nach oben geholt. Die Bilder der von behelmten Rot-Kreuz-Männern in die Krankenwagen getragenen Kumpel, die wegen der langen Zeit in totaler Dunkelheit Sonnenbrillen tragen müssen, gehen um die Welt. Am Ende sind 29 Tote zu beklagen. Es hat in Deutschland wesentlich schlimmere Grubenunglücke gegeben. 1946 verloren in einem Steinkohlebergwerk im Ruhrgebiet 405 Kumpel ihr Leben, 1962 kommt es in der Grube Luisenthal im Saarland zu einer Explosion mit 299 Toten.
Aber nicht das Unglück, sondern die Tage danach brennen den Ortsnamen ins kollektive Gedächtnis des ganzen Landes ein. Das „Wunder von Lengede“ ist die bis heute spektakulärste Rettungsaktion in der Geschichte des deutschen Bergbaus. Für die junge Bundesrepublik reiht sie sich als Schlüsselmoment ein zwischen das Wunder von Bern 1954, als die deutschen Außenseiter die Fußballweltmeisterschaft gewannen, und das Wunder von Mogadischu 1977, die spektakuläre Geiselbefreiung im von Terroristen entführten Lufthansa-Flugzeug.
Für die Zeitgenossen vor sechzig Jahren kamen in Lengede schließlich auch Tugenden zum Vorschein, die viele noch mit dem nicht lange zurückliegenden Krieg verbanden: Mut, Opferbereitschaft, Durchhaltewillen in scheinbar aussichtsloser Lage – dazu viel technisches Können. Nicht ohne Grund wurden die Männer der Grubenwehr so zu zivilen Helden.