„Grüß mir die Heimat mit dem Herkules, grüß mir das Denkmal auf dem Friedrichsplatz, das grüne Fuldatal, die graue Katz‘, grüß mir die Karlsau‘ und die schöne Wilhelmshöhe, wer weiß ob ich jemals mein Kassel wiedersehe.“ So schwärmt ein Vers des Liedes „Grüß mir die Heimat mit dem Herkules“ aus dem Jahre 1932 des Künstlers René Olfen.
Manch ein Kasselaner mag das Lied an diesem klaren Herbstag des 22. Oktober 1943 noch bei einem Spaziergang in einem der Parks der ehemaligen Residenzstadt und damaligen Gauhauptstadt gepfiffen haben. Das alte Kassel, das als eine der schönsten Städte Deutschlands galt, ging im Feuersturm am 22. Oktober 1943 unter. Bis dahin war die Stadt in über 1.000 Jahren gewachsen, hatte eine Altstadt mit eng bebauten Fachwerkhäusern, prachtvolle Bürgerhäuser, Theater und Schlössern.
Royal Air Force bombardierte nach Fächertaktik
Britische Bomber hatten auf dieses klare Wetter gewartet. 569 Flugzeuge starteten am Nachmittag, um ihre todbringende Fracht über Kassel abzuwerfen. Kassel hatte als Eisenbahnknotenpunkt mit den wichtigen Firmen Henschel, Fieseler, Junkers, Crede, Salzmann und der Spinnfaserfabrik Bedeutung für die Kriegsrüstung. Das Traditionsunternehmen Henschel baute Lokomotiven, Lastwagen und Panzer – darunter auch Tiger und Panther. Außerdem wurden Flugmotoren für Messerschmitt, Heinkel und Fieseler hergestellt. Fieseler baute die Fi-167, die als Aufklärer und Torpedobomber eingesetzt werden konnte. Crede stellte Waggons her, und Salzmann und die Spinnfaserfabrik fabrizierten Kleidung.
Deshalb und wegen der engbebauten Altstadt sollen die Alliierten bereits seit 1940 eine Bombardierung Kassels geplant haben. Um 20.17 Uhr meldete das Luftschutzwarnkommando den Anflug starker Bomberverbände und löste Luftalarm aus. Ablenkungsmanöver über Köln und Frankfurt hatten die frühere Aufklärung verhindert. Um 20.37 Uhr gingen die ersten Markierungsbomben über dem Wahrzeichen der Stadt, dem Herkules, nieder. Nach dem Setzen dieser „Christbäume“ genannten Markierungsbomben begann der Terror. Die Zielmarken waren gesetzt.
Als eines der ersten Ziele trifft es die mitten in der verwinkelten Altstadt gelegene Martinskirche. Während bei einem ersten Angriff am 3. Oktober 1943 die Außenbezirke Vellmar, Heckershausen und Sandershausen bombardiert wurden, trifft es jetzt die Kernstadt und die Henschelwerke. Die Royal Air Force bombardierte nach Fächertaktik: Erst wurde das Zentrum anvisiert und dann strahlenförmig nach außen die Bomben gesetzt. 400.000 Bomben gehen auf die nordhessische Stadt nieder – zuerst Sprengbomben und Hunderte schwere Luftminen. Durch diese Druckwelle werden die Dächer, Fenster und Türen der Häuser abgerissen.
„Den Feuerschein sah man bis ins thüringische Eisenach“
Mit den anschließend abgeworfenen über 420.000 Stabbrandbomben werden die Dachstühle in Brand gesetzt. Die überwiegenden Fachwerkhäuser aus Holz, Lehm und Stein brennen wie Zunder. Zeitzeugen berichten von aufplatzendem Asphalt, in dem Menschen steckenblieben und bei lebendigem Leib verbrannten. Statistiker haben ausgerechnet, daß auf jeden Quadratmeter der 180.000 Quadratmeter der Stadt zwei Stabbrandbomben kamen. Dadurch entwickelte sich ein Feuersturm, dem über 10.000 Menschen zum Opfer fielen.
Nach 22 Minuten war der Angriff vorbei. Kassel brannte aber noch sieben Tage weiter. Allein im Randbezirk Sandershausen starb ein gesamter Schuljahrgang 17jähriger. 48 jugendliche Flakhelfer überlebten das Bombardement nicht. Die Gemeinde Sandershausen hat heute einen Gedenkstein errichtet. Die Stadt brannte lichterloh. „Den Feuerschein sah man bis ins thüringische Eisenach“, erzählte der ehemalige Bundesfinanzminister Hans Eichel in einer TV-Dokumentation des Hessischen Rundfunks.
Hans Germandi, der 2014 verstorbene Stadthistoriker, erinnerte sich bei einem Vortrag an die Frauen und Kinder, die sich in die Keller geflüchtet hatten. Aufgrund der verbundenen Keller in der Altstadt kamen sie nicht heraus und erstickten, wenn sie nicht verbrannten. Christl Weber, die 1943 Schülerin war, erinnert sich noch an den Geruch, der später über der Stadt lag, und hat Tränen in den Augen: „Auf dem Friedrichsplatz lagen die Leichen reihenweise. Zum Abdecken war gar keine Zeit.“
Kinder ab elf Jahren wurden in den nächsten Tagen zum Aufräumen eingeteilt. Sie mußten in die Ruinen und in die Keller, um die Leichen zu bergen. Zeitzeuge Hans Frölich erklärt: „Wir kamen ja da rein, wo Erwachsene zu groß waren. Anschließend brachten wir die Leichen mit Karren zum Hauptfriedhof. Da gab es keinen Sarg und kein Leichentuch, es wurde Kalk darübergeschüttet und zugeschippt.“
Mit dem Wiederaufbau begann „zweite Zerstörung“
Kassel hatte vor dem Krieg 225.000 Einwohner, nach dem Krieg harrten nur noch 40.000 in der Trümmerlandschaft an der Fulda aus, der Rest war im Bombenterror umgekommen, gefallen oder obdachlos ausgewichen. Die Maschinenbaufabrik Henschel und Sohn sollte 1944 noch einmal Ziel eines Bombergeschwaders werden. Die „Mission Kassel“ sollte das Werk endgültig zerstören, allerdings kamen die Amerikaner von der Route ab. 80 Prozent Kassels war durch die Royal Air Force zerstört worden.
Im Jahr 1947 war jeder Bürger sechs Tage die Woche verpflichtet, die Stadt mit aufzubauen. Überwiegend waren es Frauen und Jugendliche, die die erste Arbeit machten, Trümmerfrauen. Allerdings begann damit die „zweite Zerstörung“ Kassels. Selbst Gebäude wie das Staatstheater, das wieder hätte aufgebaut werden können, machten der Abrißbirne Platz. Die Pläne sahen breite Straßen, moderne nüchterne Bauten vor. Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, wenn man erfährt, daß bei den ersten Plänen für den Wiederaufbau das Wort „Gauhauptstadt“ überklebt wurde und die Architekten jetzt die Pläne aus dem Dritten Reich umsetzten.