Man hat den 2. Juni 1967 die „Geburtsstunde der APO“ (Dieter E. Zimmer) genannt. Ein Augenblick genügte, ein einziges Ereignis: die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg durch den Polizeiobermeister Karl-Heinz Kurras. Ort des Geschehens: ein Parkplatz nahe der Deutschen Oper, West-Berlin.
Dort fand zur Stunde eine Gala-Aufführung der „Zauberflöte“ statt, unter den Gästen der persische Schah Reza Pahlewi, gegen den Ohnesorg zusammen mit Kommilitonen demonstriert hatte. Die Demonstration war wie viele zuvor eskaliert, die Stimmung aufgeheizt, die Gewaltbereitschaft groß, auf seiten der Schah-Anhänger – der „Jubelperser“ – wie der Studenten oder doch ihrer Rädelsführer, die Sorge hatten, daß die junge Bewegung, gerade entstanden, wieder zerfallen werde. Jetzt gab es einen Toten, mehr noch: es gab einen Märtyrer.
Musisch begabt, politsch nur Mitläufer
Zuerst aber war Benno Ohnesorg ein unschuldiges Opfer, auch wenn die Polizeiführung wie die tonangebende Presse des Springer-Konzerns das anders darzustellen suchten. Ein Student, musisch begabt, vielseitig interessiert, jung verheiratet und werdender Vater. Einer der „Anpolitisierten“, wie die Kader der Neuen Linken spöttisch sagten.
Am Abend des 2. Juni stand er mit vielen anderen noch vor der Oper, als die Polizei den Befehl erhielt, unter Schlagstockeinsatz gegen die Demonstranten vorzugehen, aus deren Reihen Farbeier und Tomaten, aber auch Steine, Flaschen und Rauchbomben geworfen worden waren. Die Studenten wichen zurück, und Ohnesorg trennte sich von seinen Begleitern.
Ohne Not mit Kopfschuß getötet
Er geriet in einen nahe gelegenen Hof, in den die Polizei Demonstranten abgedrängt hatte. Was sich dann genau ereignete, ist bis heute ungeklärt. Nur soviel steht fest, daß Kurras ohne Not seine Waffe auf Ohnesorg richtete und ihn mit einem Schuß in den Kopf tötete.
Die Nachricht über das Ereignis verbreitete sich in rasendem Tempo. Die Wirkung war außerordentlich: „Du bist am Morgen nach Ohnesorgs Erschießung aufgewacht, und es sind plötzlich ganz viele Menschen (…), die du noch nie gesehen hast, da (…) das hat auch irgendwo diesen euphorischen Funken gesetzt“, wie es der 68er-Soziologe Detlev Claussen beschrieb. Der „euphorische Funken“ war es letztlich, der die „Bewegung“, die „Außerparlamentarische Opposition“ (APO), entstehen ließ.
Benno Ohnesorg als Opfer des „Neonazismus“ beklagt
Als deren erste große Manifestation kann die Überführung Ohnesorgs betrachtet werden. Am Grenzkontrollpunkt Dreilinden warteten trotz Verbot mehr als fünfzehntausend Menschen, einige hundert Fahrzeuge begleiteten den Wagen mit dem Sarg auf dem Landweg über die Transitstrecke nach Hannover.
Die Kolonne fuhr in langsamem Tempo, links und rechts stand die FDJ Spalier und senkte die Fahnen; die DDR ließ es sich nicht nehmen, Ohnesorg als Opfer des „Neonazismus“ zu beklagen. An der Beisetzungsfeier sollen fast siebzehntausend Menschen teilgenommen haben, im ganzen Bundesgebiet kam es zu Demonstrationen und Trauerkundgebungen.
Vom Lokalphänomen zur Massenbewegung
Aber das war nur der Anfang. Auch wenn die Veteranen der Ostermärsche und des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) und selbstverständlich die linken Traditionalisten mit leichter Verachtung von „Juni-Gefallenen“ sprachen, den „Halb-Bewegten“, „Mitschwimmern“ oder „Neu-Entrüsteten“, so bildeten die doch überhaupt erst eine Massenbasis für die APO, die bis dahin trotz der lautstarken Proteste gegen den Vietnamkrieg und die Notstandsgesetze ein West-Berliner Lokalphänomen gewesen war.
Jetzt handelte es sich um eine gesellschaftliche Potenz, die man zur Kenntnis nehmen mußte und die sich zunehmend radikalisierte. Der charismatische Kopf des SDS, Rudi Dutschke, sprach schon im September 1967 über das „Problem der Organisation als Frage revolutionärer Existenz“, und als das Verfahren, das nach der Tötung von Ohnesorg eingeleitet wurde, mit der Feststellung endete, daß Kurras zwar rechtswidrig gehandelt hatte, aber ihm keine Schuld im juristischen Sinne nachzuweisen sei, folgte die rhetorische Frage, „was denn noch passieren müsse, bevor man zur radikalen Tat schreite?“
Autosuggestion eines Vernichtungskampfes
Es ist schwer zu entscheiden, ob die Führer der APO damals tatsächlich glaubten oder nur glauben wollten, daß „die Herrschenden“ ihre Bewegung in die Illegalität drängen und deren Anhänger physisch vernichten wollten. Aber die Suggestion reichte aus, übertrug sich und erklärt viel von der Heftigkeit der Ausbrüche in den folgenden Monaten, die ununterbrochene Reihe von Happenings und Demonstrationen, Gewaltakten und Provokationen, vor allem sexueller Art.
Gottesdienste störte man durch das Absingen der „Internationale“, den Straßenverkehr durch Sitzblockaden, neben den Politclowns der „Kommune 1“ traten zahllose andere auf, die mit ihren Eulenspiegeleien, aber auch mit öffentlicher Entblößung oder Absonderung ihrer Fäkalien einen Beitrag leisten wollten. Das „Umfunktionieren“ von Vorlesungen und Seminaren zu „Teach-ins“ sowie Universitätsstreiks führten fast zum Zusammenbruch des Hochschulbetriebs.
Selbstermächtigung für die „radikale Tat“
Das alles schien legitim angesichts des „totalitären Charakters der nachfaschistisch-faschistischen Bundesrepublik“ (Bernd Rabehl). Aber die Vorstellung, man müsse ein „neues ’33“ verhindern, war nicht nur eine fixe Idee. Hier ging es auch um Selbstermächtigung, darum, sich Gründe für die „radikale Tat“ zu verschaffen, von der Dutschke gesprochen hatte.
Gudrun Ensslin soll es gewesen sein, die nach dem Tod Ohnesorgs in einer Versammlung rief: „Sie werden uns alle töten. Das ist die Generation von Auschwitz. Mit der kann man nicht diskutieren. Die haben Waffen, und wir haben keine.“ Ensslin wird zu den Gründungsmitgliedern der „Rote Armee Fraktion“ (RAF) gehören, der Keimzelle des linken Terrors, bald gefolgt von der „Bewegung 2. Juni“.
Notwendige „Blutzeugen“ für inneren Zusammenhalt
Die Doppelbödigkeit der Ereignisse des 2. Juni 1967 hat einen Grund darin, daß die Führer der APO mehr oder weniger zynisch davon ausgingen, daß eine Eskalationsstrategie Opfer fordere – „Wie bitter nötig hatten wir die Opfer in unseren Reihen“ (Frank Böckelmann) – und daß solche Blutzeugen überhaupt erst für den notwendigen Zusammenhalt und ein Klima revolutionärer Entschlossenheit sorgen würden.
Leicht wiegt verglichen damit die spät entdeckte Tatsache, daß Kurras ein Stasi-Agent war. Daß die DDR bei Entstehung und Entwicklung der APO immer ihre Hände im Spiel hatte, ist lange bekannt. Daß sie ihren Nutzen aus der Unruhe im Westen zu ziehen suchte, auch. Aber bei der Ermordung von Ohnesorg war offenbar entscheidend, daß Kurras ein beschränkter, haltloser und brutaler Mensch war, den seine Kollegen aus falsch verstandenem Korpsgeist deckten, nicht, daß er von „Pankow“ gelenkt wurde.
JF 23/17