Den 8. Mai 1945 erlebte ich als fast Zehnjähriger in der elterlichen Wohnung zu Hamburg, meiner Vaterstadt, Stadtteil Hoheluft-West/Harvestehude. Es lag eine unerträgliche Spannung in diesen Tagen über der bombengeprüften Bevölkerung bei der Beantwortung der Frage, wie sich der verantwortliche Gauleiter Karl Kaufmann gegenüber den Engländern und deren Drohung verhalten würde, die Stadt durch Bomben restlos zu zerstören, falls sie nicht kampflos übergeben würde. Karl Kaufmann entschied sich für „seine Hamburger“ und ließ auf einer Extra-Ausgabe, herausgegeben von der Hamburger Zeitung (Untertitel Hamburger Anzeiger, Hamburger Fremdenblatt, Hamburger Tageblatt), die Motive und seinen Dank an die Bevölkerung für ihr tapferes und dennoch vergebliches Durchhalten übermitteln sowie seinen Entschluß verkünden, Hamburg, unsere unter großen unmenschlichen und materiellen Opfern geprüfte Stadt kampflos zu übergeben. Unser Herz, das wohl den meisten von uns angesichts der eingangs genannten entsetzlichen Spannung tief in die Hose gerutscht war, befand sich wieder an der richtigen Stelle. Die so durch Kaufmann herbeigeführte kampflose Übergabe unserer Vaterstadt empfanden meine Eltern, viele Menschen und ich zutiefst als Befreiung von den gnadenlosen Terrorangriffen (so die damals offizielle Sprachregelung) der alliierten Bombengeschwader, unter deren Bombenteppichen Kindergarten- und Sportkameraden, Freunde, Greise, Frauen erschlagen, erstickt, verschmort oder auf sonstige Weise grausam zu Tode gekommen sind. Vor allem meine Keller-, Hoch- und Röhrenbunkererlebnisse sind mir unvergeßlich geblieben: Gebeugte, gebückte Erwachsene mit unruhigen, bis verzerrten Gesichtszügen, die den Einschlag der herunterpfeifenden Bomben erwarteten (wo schlägt sie ein, sind wir dran?). Erwachsene, zu denen wir Kinder gemeinhin schutzsuchend aufblickten gerieten mehrheitlich in Panik, jammerten und zitterten, wenn Wände und Stühle dröhnten und wackelten, das Licht flackerte, verlosch, Staub rieselte, der Drahthörfunk krächzte; und das ohne meine Eltern, die irgendwo da draußen als Ärzte ihrer gefahrvollen Pflicht nachkamen. Ein definitives Ende dieses Desasters war die eigentliche Befreiung und der Dank gegenüber allen, die auf eine solche Übergabelösung hingearbeitet hatten – egal wer und an welcher Stelle! Der Einzug der „Tommies“, wie sie später genannt wurden, geschah dann im Rahmen strikter Auflagen derselben und unter Hinweisen in der „Extra-Ausgabe“ (Die Bevölkerung mußte in den Häusern bleiben, das Verbot sich am Fenster zu zeigen und viele andere Einschränkungen) Hinter der Gardine stehend sahen wir sie dann kommen: Langsam fuhren sie die Isestraße entlang Richtung U-Bahnstation Hoheluftbrücke. Vorweg zwei Kradfahrer mit topfförmigem Helm, umgehängter Maschinenpistole, Pistole im Stoffutteral, gefolgt von kleinen rasselnden Kettenfahrzeugen und Mannschaftswagen („Plattnase mit Ausstieg“). So durchfuhren sie die Straßen, vorbei an wahren Gebirgen von Trümmern der Hamburger Stadtteile und befreiten uns dadurch gleichsam von jenem Übel, das sie eigens über uns gebracht hatten. Reinhard Reuss, Wehretal
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