Unterlüß verdankt seine Existenz dem 1847 gebauten Bahnhof an der Strecke Hannover–Hamburg. 1899 wurde es ein wachsender Rüstungsstandort der in Düsseldorf gegründeten Rheinischen Metallwaren- und Maschinenfabrik und blieb es in den Weltkriegen und im Kalten Krieg. Als die Bundesrepublik nach der Wiedervereinigung abrüstete, begann der Niedergang, und 2015 wurde der Ort mit dem größeren Hermannsburg zur Kunstgemeinde Südheide fusioniert. 2019 gab es immerhin einen 109-Millionen-Euro-Bundeswehrauftrag für 32.000 Artilleriegeschosse Kaliber 155 Millimeter – mit der Option auf weitere 11.000 Stück.
Die „Zeitenwende“ sorgt nun für ein Wirtschaftswunder im idyllischen Lüßwald. Dank eines 8,5-Milliarden-Euro-Auftrags über Artilleriemunition wurde das dortige Rheinmetallwerk mit 3.200 Beschäftigten für 500 Millionen Euro ausgebaut und 500 neue Stellen geschaffen. Zur Feier der Produktionsaufnahme waren vorige Woche nicht nur SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius und Nato-Generalsekretär Mark Rutte gekommen, sondern auch Bulgariens Präsident Rumen Radew, Rumäniens Premier Ilie Bolojan sowie Vertreter aus Lettland und Litauen – alles Länder, in denen Rheinmetall neue Werke mit einem Gesamtausstoß von 1,5 Millionen Artilleriegranaten errichten wird.
„Keine andere Sparte bringt eine höhere Marge“
350.000 Artilleriegeschosse zum Stückpreis von 4.000 Euro sollen es in Unterlüß jährlich werden. „Keine andere Sparte bringt eine höhere Marge“, rechnete das Handelsblatt vor. Bis 2027 soll die operative Gewinnmarge von 23 auf mehr als 26 Prozent steigen. Rheinmetall ist auch Panzerhersteller und Rüstungszulieferer. Konzern-Chef Armin Papperger rechnet mit europaweiten Aufträgen mit einem Volumen von 300 bis 400 Milliarden Euro. Seit dem Ukrainekrieg wird in neue Kampfjets, Hubschrauber, Panzer, Flugabwehrsysteme, Lenkflugkörper, Drohnen und Marinesysteme investiert.
Die deutsche Autoindustrie kämpft hingegen mit Überkapazitäten, und innerhalb eines Jahres gingen 51.500 Stellen verloren. Auch in der Chemie- oder Stahlbranche geht die Deindustrialisierung weiter – laut EY-Studie wurden bis Jahresmitte 114.000 Stellen abgebaut. Der Bau- und Rüstungssektor profitiert von kreditfinanzierten Staatsmilliarden, die einerseits in die Straßen- und Brückensanierung sowie in den Ausbau des Stromnetzes fließen, andererseits in die Wehrertüchtigung. Der Staat verspricht Kontinuität, davon profitieren auch – einschließlich der Zulieferer – die etwa 150.000 Beschäftigten der Rüstungsbranche.
Der Rüstungsindustrie fehlt es an Wettbewerb
Große Produzenten wie Airbus Defence, Rheinmetall, Hensoldt, Diehl und Diehl Defence werden von hochspezialisierten Mittelständlern mit Komponenten für ihre komplexen Waffensysteme beliefert. Auch Rohde & Schwarz, Siemens, MAN oder Jenoptik sind im Geschäft. Ebenso werden Fertigungstechnologien aus dem Maschinenbau in militärischen Anwendungen eingesetzt – von Robotik über Materialtechnik bis zur additiven Fertigung. Dies schafft Synergien und neue Geschäftsfelder. Carl Zeiss hat seine Rüstungssparte hingegen 2012 an Cassidian Optronics verkauft.
Um in moderne Fertigungsstraßen zu investieren und so hohe Stückzahlen produzieren zu können, fordern die Rüstungsfirmen langfristige Garantien. Die Bundesregierung verspricht, das jährliche Verteidigungsbudget bis 2029 auf 162 Milliarden Euro zu verdoppeln. Das ist mehr als das Nato-Ziel, das vorsieht, bis 2035 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) fürs Militär zu verwenden. Aber retten die vollen Auftragsbücher die deutsche Wirtschaft vor dem prognostizierten Niedergang? Immerhin kündigten die Rüstungshersteller Zehntausende Neueinstellungen an.
Skeptisch äußern sich Tom Krebs und Patrick Kaczmarczyk von der Uni Mannheim in ihrer Studie „Wirtschaftliche Auswirkungen von Militärausgaben in Deutschland“: Ein ausgegebener Euro fürs Militär führe bestenfalls zu 50 Cent zusätzlicher wirtschaftlicher Aktivität. Öffentliche Investitionen in die Infrastruktur erzeugten das Zwei- bis Dreifache an zusätzlicher Wertschöpfung. „Aus ökonomischer Sicht ist die geplante Militarisierung der deutschen Wirtschaft eine risikoreiche Wette mit niedriger gesamtwirtschaftlicher Rendite“, warnt Ökonomieprofessor Krebs. Die deutsche Rüstungsbranche sei bereits stark ausgelastet und von geringem Wettbewerb geprägt. Ihre Strukturen könnten „kaum als effizient“ bezeichnet werden.
In direkter Konkurrenz zu einer grünen Industriepolitik?
Die Behebung dieser Ineffizienzen sei eine Grundvoraussetzung, damit der Großteil der Staatsgelder nicht in überhöhte Unternehmensgewinne und Dividendenzahlungen fließt: „Sollte die wettbewerbsfördernde Reform des Sektors politisch nicht oder nur unzureichend durchsetzbar sein, wäre auch eine öffentliche Beteiligung an zentralen Rüstungsunternehmen wie Rheinmetall in Erwägung zu ziehen“, so die Mannheimer Wirtschaftswissenschaftler. Zudem handele es sich um einen vergleichsweise kleinen Wirtschaftsbereich, erklärte Stefan Kooths vom Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW): Das Verhältnis zur Autoindustrie betrage etwa eins zu zehn. Lediglich langfristig könnten Militärausgaben die Produktivität und das Produktionspotential der Wirtschaft steigern, doch „in Bezug auf die militärische Forschungsförderung in Deutschland gibt es dazu keine robuste empirische Evidenz“, schränkt Krebs ein.
Auch für den „Green Deal“ der EU hat der Ökonom eine schlechte Nachricht: „Die geplante finanzpolitische Priorisierung der Produktion von Rüstungsgütern steht in direkter Konkurrenz zu einer grünen Industriepolitik und macht effektiven Klimaschutz fast unmöglich“, konstatierte Krebs bereits im März in seiner Stellungnahme zur Änderung der Schuldenbremse im Grundgesetz.
Niemand weiß, wer wieviel bekommt
Unklar ist auch, welche Firma wieviel bekommt. Friedrich Merz will europäische Produzenten bevorzugen, um die EU unabhängiger zu machen. Donald Trump verlangte im Zuge des Zollstreits und der Diskussion um die Zukunft der Nato, daß US-Rüstungsfirmen von der deutschen Aufrüstung profitieren. So wird die Bundeswehr mit den F35-Kampfjets von Lockheed Martin modernisiert. Immerhin ist Rheinmetall ein Zulieferer. Im Rüstungswerk im niederrheinischen Weeze sollen F35-Rumpfmittelteile hergestellt werden. Auch der dortige Flughafen dürfte davon profitieren.
Der niederländische Rüstungskonzern KNDS – aus den Panzerbauern Krauss-Maffei Wegmann und Nexter hervorgegangen – will jährlich zwar einen zweistelligen Millionenbetrag in den Standort Kassel investieren. Aber Fachkräfte aus der Autoindustrie will man nicht übernehmen. Die Fertigungsprozesse seien zu unterschiedlich. Der Spezialisierungsgrad sei deutlich höher und erfordere intensivere Ausbildung und Spezialkenntnisse. Im Waggonbauwerk im niederschlesischen Görlitz übernimmt KNDS hingegen Teile der Belegschaft des französischen Zugherstellers Alstom, um dort gepanzerte Fahrzeuge zu bauen.
Der teilstaatliche Rüstungselektronikspezialist Hensoldt will Mitarbeiter von Continental und Bosch übernehmen. Rheinmetall will Beschäftigten des defizitären Continental-Bremsenwerks in Gifhorn eine neue Perspektive bieten. Ob jedoch deutsche Rüstungsaufträge die VW-Standorte Osnabrück und Dresden retten, ist weiter offen.