Ein deutscher Fernsehsender würde so ein Drehbuch wohl als völlig überzogen ablehnen. Doch im „Fall Wirecard“ wird in immer kürzeren Abständen Unglaubliches bekannt. „Betrug in Milliardenhöhe – Können Sie Hinweise zum Aufenthaltsort von Jan Marsalek geben?“, titelt das Fahndungsplakat des Bundeskriminalamtes (BKA) sowie der Staatsanwaltschaft und des Polizeipräsidium München. Auf einen Foto seines österreichischen Passes von 2017, wo er sich nach seinem tschechischen Vater korrekt „Maršálek“ schreibt, ist der heute 40jährige mit braunem Vollbart zu sehen. Daneben neben prangt ein Bild als Vorstandsmitglied des Dax-Unternehmens von 2019.
Neuer Höhepunkt ist die Vermutung, daß von Maršálek bestellte Schauspieler vor den Kulissen angeblicher Filialen Asiens die Wirtschaftsprüfer der global operierenden Firma Ernst & Young (EY) blenden sollten. Die potemkinschen Dörfer sollten anscheinend glaubhaft machen, daß das Geschäft nicht nur floriert, sondern daß es überhaupt existiert. Nachdem sich EY zuvor mit Kopien und Screenshots hat abspeisen lassen, kamen die hochbezahlten Prüfer später darauf, die „angestellten“ Banker in den sozialen Netzwerken ausfindig zu machen.
Dax-Regelwerk flink geändert
Fehlanzeige. Sie existieren genau so wenig wie die ausgewiesenen 1,9 Milliarden Euro Vermögen. Derweil weitet die Münchner Staatsanwaltschaft die Ermittlungen auf die verbliebenen Wirecard-Restvorstände Alexander von Knoop und Susanne Steidl aus. Vorwürfe: Bilanzfälschung, Marktmanipulation, Betrug. Ebenfalls mehr als kurios mutet es an, daß Berlin jetzt sogar zwei Dax-Unternehmen stellt. Nachdem im Juni die Deutsche Wohnen SE die Deutsche Lufthansa coronabedingt aus dem Dax in den MDax gekegelt hatte, soll jetzt der Lebensmittel-Lieferdienst Delivery Hero SE für die insolvente Wirecard AG antreten.
Nachdem vielleicht 19 Milliarden Euro Anlegergeld vernichtet sind, erfüllt Wirecard keine Dax-Kriterien mehr und flog am Freitag im hohen Bogen aus dem Index. Das Dax-Regelwerk wurde flink geändert, damit der Ausschluß noch im August vollzogen werden konnte. Demnach verläßt künftig ein Unternehmen, das einen Insolvenzantrag stellt, sofort die Indizes der Deutschen Börse. Investoren, die ein Index-Listing als Anlagerichtlinie haben, üben spätestens danach zusätzlichen Verkaufsdruck auf den „Pennystock“ Wirecard aus. Schlußkurs im wahrsten Sinne des Wortes war 1,29 Euro, nachdem sich der 52-Wochenverlauf zwischen 159,60 und 1,09 Euro bewegt hatte. Charttechnisch dürfte die Unterstützungslinie bald null Euro heißen.
Der Lieferdienst als Dax-Neuling betreibt in 43 Ländern Bestellplattformen. Nach der Gründung 2011 ging es erst vor drei Jahren an die Börse. Dort wird Delivery Hero derzeit mit rund 20 Milliarden Euro bewertet. So viel war auch der Zahlungsdienstleister Wirecard einmal wert. Auf jeden Fall ist der neue Dax-Held ein auffälliger Aufsteiger: Von Profitabilität keine Spur. Das erste Halbjahr 2020 wurde mit einem Verlust von 319,5 Millionen Euro bei einem Umsatz von rund 1,5 Milliarden Euro im Geschäftsjahr 2019 abgeschlossen.
In Deutschland gar nicht mehr aktiv
In Deutschland selbst ist der Dax-Emporkömmling inzwischen gar nicht mehr aktiv. 2019 wurde das Inlandsgeschäft an die niederländische Firma „Just Eat Takeaway“ veräußert. Wie hat sich die einstige Nobelliga der deutschen Wirtschaft „Dax“ doch verändert. Der frühere Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart hat dazu in seinem „Morning Briefing“-Podcast kommentiert: „Früher glänzte es auf dem Frankfurter Parkett golden, neuerdings schimmert es halbseiden.“
Gleichzeitig leben die Wirecard-Angestellten weiter in großer Unsicherheit. Während die Gewerkschaft Verdi für die weltweit 5.800 Mitarbeiter an einen Paketverkauf glaubt, hat Insolvenzverwalter Michael Jaffé bereits das Brasilien-Geschäft an den auf den Cayman-Inseln registrierten Zahlungsdienstleister PagSeguro Digital verkauft. Und die englische Tochter Wirecard Card Solutions soll laut dem Portal „Sifted“ von der Londoner Railsbank übernommen worden sein. Ein Batzen Arbeit für Jaffé, denn die Muttergesellschaft Wirecard AG hat selbst kein operatives Geschäft betrieben, sondern dieses an die 40 Tochtergesellschaften übertragen.
Unangenehm für deutsche Politiker
Aber auch die deutsche Politik ist im Wirecard-Dschungel verfangen. Nicht nur der einstige CSU-Hoffungsträger Karl-Theodor zu Guttenberg legte sich für das formal bayrische Unternehmen ins Zeug. Auch der ehemalige Hamburger Bürgermeister Ole von Beust (CDU) war am Werk. Auf eine Anfrage der Grünen bestätigte die Bundesregierung eine entsprechende Anfrage von ihm zu einem EU-China-Gipfel.
Auch für Bundesfinanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz könnte die Wirecard-Pleite noch unangenehm werden. Mitarbeiter der ihm unterstellten Aufsichtsbehörde Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) sollen in den Monaten vor der Pleite mit Wirecard-Aktien gehandelt haben. Den Beschäftigten der Europäischen Zentralbank (EZB) war dies hingegen selbstverständlich verboten – Wirecard hatte die Kriterien eines Finanzunternehmens in der EU erfüllt.
Interessant ist ebenfalls, daß die Deutsche Bundesbank das für ihre Mitarbeiter 2018 ebenfalls eingeführt hatte. Das heißt, nur bei Scholz’ BaFin durfte angelegt oder gezockt werden, da man sich selbst ja als nicht zuständige Aufsichtsbehörde ansah. Jetzt am Ende des Dramas hat die Bankenaufsicht die Kontrolle über das vorhandene Wirecard-Cash an sich gerissen.
Wer trägt die Verantwortung?
Für BaFin-Chef Felix Hufeld wird die Luft zunehmend dünner. Immer klarer wird erkennbar, daß er nachträglich versucht hat, die eigene Verantwortung auf andere Schultern zu verteilen. So soll die skurrile Einstufung von Wirecard als „Technologieunternehmen“ anderen in die Schuhe geschoben werden. Am 1. Juli berichtete Hufeld im Finanzausschuß des Bundestages noch, daß BaFin und Bundesbank diese Einstufung Anfang 2017 „übereinstimmend“ getroffen und die EZB später zugestimmt hätte.
Dem widerspricht EZB-Aufsichtsrat Andrea Enria. „Die Bankenaufsicht der EZB spielte keine Rolle bei der Frage, ob die Wirecard AG aus einer aufsichtlichen Perspektive ein Finanzholdingunternehmen ist“, so der italienische Ökonom. Dies falle in die Zuständigkeit der nationalen Aufsichtsbehörde – sprich: die BaFin.
Genauso sieht es die Bundesbank. Eine Sprecherin teilte mit: „Über die Einstufung als Finanzholding-Gesellschaft entscheidet entsprechend der gesetzlichen Kompetenzzuweisung letztlich die BaFin. Eine weitere Korrektur seiner Aussagen erfährt Hufeld durch Edgar Ernst, Chef der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR). Die Erklärung, die BaFin habe keinen DPR-Prüfbericht zu den Wirecard-Bilanzen erhalten, und er sei damit „unzufrieden“, sei falsch. Vielmehr seien am 14. Mai und am 24. Juni Zwischenberichte erstellt worden, mit denen sich die BaFin zufrieden gezeigt hätte.
Musterklage gegen BaFin und EY
Rechtsanwalt Michael Leipold bereitet derweil eine Musterklage gegen die BaFin und den Wirtschaftsprüfer EY vor. Ob das Unternehmen EY Deutschland das Desaster in dreistelliger Millionenhöhe überlebt, ist fraglich. Leipold sieht auch bessere Chancen gegenüber der BaFin. Eigentlich hat diese vom Staat eine Haftungsfreistellung. Da die DPR beauftragt wurde und diese nicht korrekt überwacht habe, sieht der Experte jetzt aber Haftungsansprüche.
Die Wirtschaftswoche berichtet über ein vorzeitiges Amtsende des seit 2015 amtierenden Präsidenten Hufeld mit den Worten: „Es gab keine Gespräche dieser Art vonseiten der Bundesregierung“, erklärte Scholz’ Staatssekretärin Sarah Ryglewski – eine 37jährige Bremer Diplom-Politologin – auf die Frage, ob es in letzter Zeit Gespräche zur Auflösung des Beschäftigungsverhältnisses von Hufeld gegeben habe.
Wie lange, trotz des behördlichen Versagens, Scholz seinen BaFin-Chef Hufeld noch in Schutz nimmt, wird sich wohl am 31. August und 1. September zeigen. Dann finden Sondersitzungen des Finanzausschusses statt. Dem seit dem Hamburger G20-Gipfel mit „Gefahrengebieten“ bestens vertrauten Ex-Bürgermeister dürften turbulente Stunden bevorstehen. Denn der Ausschuß beabsichtigt aus dem Kanzleramt Verantwortliche aus den Bereichen Geheimdienstkoordinierung und Wirtschaft einzuladen. Gern gesehen ist auch Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD). Auf der illustren Einladungsliste stehen auch Bundesbank, BaFin und die Deutsche Börse AG.
Hinweise auf Geldwäsche
Diese Runden werden zusätzlich interessant, da auch das Thema „Geldwäsche“ und damit ein weiteres Behördenversagen aufs Tapet kamen. So hat die Anti-Geldwäsche-Einheit des Zolls, die ebenfalls dem Finanzminister unterstellte „Financial Intelligence Unit“ (FIU), Hinweise auf möglicherweise strafbare Handlungen von Mitarbeitern der Wirecard-Bank nicht an die zuständigen Strafverfolgungsbehörden weitergegeben.
Seit Februar 2019 gingen bei der FIU 36 Geldwäscheanzeigen gegen Vorstände und Aufsichtsräte ein. Das geht aus einer Antwort des Finanzministeriums auf eine Anfrage des bayrischen Grünen-Abgeordneten und Finanzexperten Danyal Bayaz hervor, über die das Handelsblatt berichtet. Teilweise seien die Anzeigen erst nach mehr als einem Monat weitergeleitet worden. Davon seien 16 Anzeigen noch in Bearbeitung. Zu den Sondersitzungen sind daher auch Mitglieder der FIU sowie Vertreter aus dem Bayerischen Innenministerium eingeladen. Das Drehbuch „Wirecard“ ist also noch nicht geschlossen – Fortsetzung folgt.