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Kulturrevolution ohne Mao

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Kulturrevolution ohne Mao

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Ludwig Wittgenstein hat einmal festgestellt: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Daß diese Grenzen immer enger werden, daran arbeiten Pädagogik, Schul- und Wissenschaftspolitik, eine denglisch-berauschte Ökonomie, Orthographie-Reformer und Orwellsche Sprachwarte der politischen Korrektheit eifrig. Allein das Sündenregister der Schulpolitik und der Pädagogik ist schier endlos: das Schnuller-Englisch, mit dem hyperambitionierte Eltern ihr Kind in einem Little-Giant-Kindergarten für den globalen Wettbewerb fit machen wollen; die geringe Stundenausstattung des Faches Deutsch als Schulfach zwischen der ersten und zehnten Klasse mit nur ganzen 16 Prozent der Gesamtstunden; die Kürzung des Deutschunterrichts in der Grundschule zugunsten von Früh-Englisch (Immersionsunterricht); das Herunterfahren des curricular ausgewiesenen Grundwortschatzes auf nur noch 700 Wörter aktiven Wortschatzes am Ende der 4. Klasse; ein bilingualer Unterricht, der eher auf eine zweifache Halbbildung hinausläuft; der jahrzehntelange Verzicht auf eine verbindliche Abiturprüfung im Fach Deutsch; das Zustöpseln von Lückentexten durch Schüler anstelle des Verfassens von zusammenhängenden Antworten; die Abschaffung eines Lektürekanons und die damit verbundene Preisgabe kultureller und geistiger Tradition. Tatsächlich hat sich im Sprach- und Literaturunterricht der Schulen eine postmoderne Beliebigkeit breitgemacht. Hier hat eine Furie des Verschwindens von Inhalten und Ansprüchen gewirkt. Begonnen hat dies — und zwar nachhaltig — vor mehr als drei Jahrzehnten. In den berühmt-berüchtigten hessischen Richtlinien des Jahres 1972 für den Deutschunterricht ging es den Initiatoren darum, Sprache als „Ausübung von Herrschaft“ zu begreifen; dementsprechend sollte die „Unterwerfung der Schule unter herrschende Normen“ überwunden werden. Von Hochsprache war kaum noch die Rede. Die Literatur rangierte — völlig egalisiert — unter „Texte“, in einer Kategorie mit Werbe- und Gebrauchstexten. Der ausgebürgerte russische Germanist Lew Kopelew konstatierte dementsprechend 1989, entsetzt über den literarischen Kahlschlag an deutschen Schulen, eine „Kulturrevolution ähnlich wie in China — nur ohne Mao“. Schule muß dem endlich entgegensteuern. Sie muß der sprachlichen und literarischen Schulung wieder mehr Aufmerksamkeit widmen. Denn: Sprachliche Bildung ist erstens Persönlichkeitsbildung. Sprache ist Medium für die Entfaltung von Innerlichkeit und Ausdruck der Gesamtpersönlichkeit. Über die Sprache begreife ich meine Welt; ein sprachunfähiges Erleben indes reduziert Welt auf die Flüchtigkeit bloßer Eindrücke. Sprachliche Bildung fördert zweitens das Erleben und Verantworten von Freiheit. Erst mit Sprache ist die Teilhabe an der politischen Öffentlichkeit möglich. Wer die Sprache beherrscht, durchschaut beispielsweise leichter Propaganda. Sprache ist drittens das einzige humane Instrument der Konfliktlösung. Sprachliche Bildung ist viertens Voraussetzung zwischenmenschlichen Verstehens und Handelns. Erst die Alphabetisierung erlaubt — fünftens — eine Teilhabe an zivilisatorischen Er-rungenschaften. Sprachunterricht ist sechstens die Chance, ein Gespür für künstlerische Leistung zu entwickeln. Zu den Charakteristika des Sprachunterrichts gehört es ja, daß er Kreativität zu fördern vermag. Wenden wir uns den Sündenfällen in Wissenschaft und Hochschule zu: Wäh-rend vor nicht allzu langer Zeit Publikationen in den Naturwissenschaften in mehreren Sprachen möglich waren, haben nun auch viele deutsche Fachzeitschriften auf das Englische umgestellt. Besonderes erbärmlich ist, daß oft sogar auf Fachkongressen in Deutschland mit 90 Prozent deutscher Beteiligung englisch gesprochen wird. Viele Forschungsförderungsanträge dürfen von deutschen Wissenschaftlern nur noch auf englisch eingereicht werden, immer mehr Lehrveranstaltungen für deutsche Studenten von deutschen Dozenten werden auf englisch abgehalten. Daß eine jede nationale Sprache auch Wissenschaftssprache sein muß, ist aber wichtig, denn dadurch wird Wissenschaft demokratisiert. Die Verwendung der Nationalsprache als Wissenschaftssprache ist also keine Frage des Nationalstolzes, sondern eine Frage der Demokratie. Trotzdem greift ein „Academic pidgin English“ um sich. „The language of good science is bad English.“ Das sagt einer der renommiertesten Anglisten in Deutschland, Ekkehard König. Analoge Erfahrungen werden aus Schweden berichtet. Hier stellte sich heraus, daß in Vorlesungen das Verständnis seitens der Studenten erheblich zurückbleibt, wenn die Vorlesungen auf englisch gehalten wurden. Eine wachsende Zahl von Wissenschaftlern jedenfalls ist über diese Entwicklung besorgt. So wurde 2005 ein Thesenpapier zur deutschen Sprache in der Wissenschaft veröffentlicht, das von Hunderten namhafter Persönlichkeiten unterzeichnet wurde (www.7thesenwis-senschaftssprache.de). Nehmen wir die Denglisch-Seuche: Laut Süddeutscher Zeitung soll der Deutsche-Bank-Peanuts-Kopper einmal in „broken English“ gesagt haben: „Jeder muß im Job permanently seine Skills so posten, daß die Benefits alle Ratings sprengen, damit der Cash-Flow stimmt.“ Die deutsche Sprache scheint zumindest bei Herrschaften dieser Gattung fortschreitend durch ein BSE — bad simple English — ersetzt worden zu sein. Doch die Sündenregister wider das Deutsche reichen viel weiter — weit hinein in den Alltag. Die aggressivste Sprachbarbarei geschieht derzeit in der Psychologie (Brain up, Burnout, Feedback, Feeling, Flow, Mindmapping) und in der Wirtschaft (Benchmarking, Employability, Global Player, Lean Production, Outlet Center). Wer nun meint, wenigstens der Bildungssektor würde sich dieser Anglomanie entziehen, wird bitter enttäuscht sein. Das Gegenteil ist der Fall: Die Sprache der „Bildung“ gibt sich besonders „trendy“. Kultusministerien übertreffen sich gegenseitig mit: Educ@tion, Learntec, Knowledge-Machines, Soft Skills, Download-Wissen, Just-in-time-Knowledge und so weiter. Und Schulkonzerte werden zu Top Acts, Weihnachtsbasare zu Charity Events. Tiefenpsychologisch handelt es bei all dem um eine verbalerotische Hyperventilation zwischen Imponiergehabe und infantiler Gläubigkeit. Narzißtisch ist dieser Dünkel zu meinen, mit dem Gebrauch einer solchen Sprache signalisiere man Zugehörigkeit zur Klasse der Global Players und des Jetset. Politisch schließlich wird eine solche Sprache zum Politik-Ersatz, das heißt zu einer Politik, die das Etikettieren bereits für politisches Handeln hält. Ernsthaft aber: Diese denglische Verbalerotik hat zu tun mit Selbstverleugnung, zumindest mit Selbstvergessenheit. Die Londoner Times nennt die Anglomanie der Deutschen gar „linguistic submissiveness“. Und lebte Winston Churchill noch, er würde mit Blick auf diese sprachliche Unterwürfigkeit der Deutschen seinen alten Spruch hervorkramen: „Die Deutschen — man hat sie entweder an der Gurgel oder zu Füßen.“ Aber es gibt Lichtblicke! Da gibt es doch tatsächlich große Unternehmen, die ihr Saulus-Erlebnis hinter sich haben, die zur Kenntnis nehmen mußten, daß das Gros der Kunden ihre Werbesprüche nicht verstand: Bei Sat.1 heißt es jetzt nicht mehr „Powered by Emotion“, sondern „Sat.1 zeigt’s allen“; beim Energiekonzern RWE nicht mehr „One group, multi utilities“, sondern „Alles aus einer Hand“; bei Douglas nicht mehr „Come in and find out“, sondern „Douglas macht das Leben schöner“. Ein paar Leute wollen das Thema Denglisch regelmäßig popularisieren. Im Februar 2006 wurde deshalb die Aktion Lebendiges Deutsch (ALD) aus der Taufe gehoben. Nun ist die Aktion seit gut zweieinhalb Jahren tätig. Im Sommer 2008 ist die Zuschrift Nummer 50.000 zu den monatlichen Suchwörtern eingegangen. Auf diese Weise sind beispielsweise folgende „Übersetzungen“ zustande gekommen: Homepage = Startseite, Shareholder Value = Aktionärsnutzen, Countdown = Startuhr, Junk Bonds = Schrottanleihen, Airbag = Prallkissen, Brainstorming = Denkrunde, Fastfood = Schnellkost. Es ist auch viel Kreatives dabei. Allein Brainstorming erbrachte mehr als dreitausend verschiedene Vorschläge von mehr als 10.000 Einsendern, darunter Gripstreff, Hirnhatz, Synapsentango. Für Fastfood kamen die Alternativen Schmampf, Dampfmampf, Hatzfraß, für Anti-Aging so lustige Übersetzungen wie Runzelblocker, Faltenbügler. Wer mitmachen möchte, kann sich über die ALD-Netzseite www.aktionlebendigesdeutsch.de einklinken. Ärgernis Schlechtschreibreform: Seit nunmehr zehn Jahren ist die viel versprechende (nicht: vielversprechende) sogenannte Rechtschreibreform in Kraft. Zugleich wollte man uns eintrichtern: Die Schüler würden mit der neuen Schreibung zwischen 40 und 70 Prozent weniger Fehler machen. Falsch! Falls es überhaupt zu einer Verringerung der Fehler kam, dann hat das mit dem Prinzip „Beliebigkeit“ zu tun. Beliebigkeit heißt etwa: Wenn ich ein Komma setzen kann, aber nicht muß, dann passieren eben weniger Fehler. Überhaupt ist der größte Kollateralschaden der Rechtschreibreform dieses um sich greifende Gefühl der Beliebigkeit: Immer mehr Junge und Alte glauben, man könne in weiten Bereichen so schreiben, wie man will. Vor allem aber hat durch die Rechtschreibreform die Lesbarkeit von Texten gelitten (siehe Kommasetzung, Trennung und weitgehenden Wegfall des ß, das ein Lese-Geländer war, zum Beispiel in der Konjunktion „daß“.) Insofern war es der Kardinalfehler der Reformer, den schreibenden Grundschüler zum Maßstab für die Reform zu machen statt den schreibenden und lesenden Erwachsenen. Ansonsten hätte es eine ganz andere Möglichkeit zur Reduzierung von Rechtschreibfehlern gegeben: die Rechtschreibung in den Schulen wieder ernst zu nehmen, anstatt sie zu diskreditie-ren. Wohldurchdacht und vielversprechend jedenfalls war die Reform nie. Hätte man statt eines jahrelang ringenden Professorenteams und der Reparaturkolonne des Rates für Rechtschreibung nur eine Woche lang je einen Journalisten, Lektor und Deutschlehrer in ein Kloster eingesperrt, es wäre ein Reformwerk aus einem Guß geworden — und man hätte unendlich viel Geld gespart. Wie steht es um die deutsche Sprache im Ausland? Hier fehlt es an einer konsequenten Förderung durch Politik und Wirtschaft. Folge: Weltweit verliert das Deutsche an Boden. So hat sich die Zahl der Deutschlerner weltweit von 2000 bis 2005 um 17 Prozent reduziert, das heißt, von rund 20 Millionen auf 16,8 Millionen. Die Regierung Schröder/Fischer hatte ja auch nahezu null Interesse an auswärtiger Kulturpolitik gehabt. Das hat sich nunmehr etwas verbessert, der Etat des Goethe-Instituts ist um 7,5 Prozent gestiegen. Aber: Auf EU-Ebene gibt es Dokumente oft nur in englisch oder französisch. Deutsche in Brüssel sprechen Englisch, selbst wenn sie unter sich sind. Deutsche Konzerne kommunizieren im Ausland am liebsten ebenfalls auf englisch; sie honorieren selten gute Deutschkenntnisse der einheimischen Bevölkerung. Dabei wäre Sprachexport kein aggressiver Akt, sondern ein Akt der Öffnung einer Nation für andere Nationen. Überhaupt brauchen wir gegen die um sich greifende Selbstvergessenheit unserer Sprachnation einen aufgeklärten Sprachpatriotismus. Mit Imperialismus, Nationalismus, Chauvinismus oder Zwangsgermanisierung hat das nichts zu tun: Chauvinismus ist der Wahn der Überlegenheit, der Glaube, das Wesen anderer müsse am eigenen Wesen genesen; Nationalismus ist Haß auf andere, ist  irrationales Freund/Feind-Denken. Patriotismus ist Liebe zum Vaterland, zur Heimat — ohne nationale oder gar nationalistische Überheblichkeit, ohne „Hurra“, ohne Taumel. Aufgeklärter Sprachpatriotismus hat — quasi als Kehrseite der Medaille Globalisierung — mit Bindung nach innen, mit Wir-Gefühl und mit Geborgenheit zu tun. Man könnte auch sagen: Je internationaler die Welt, desto notwendiger patriotische Gefühle. Der jüdisch-deutsche Soziologe und Philosoph Norbert Elias hat es so formuliert: Ein Land braucht „den Zement des Empfindens einer gemeinsamem Identität“. Die Sprache ist ein solcher Zement.   Josef Kraus, 59, Diplom-Psychologe, ist seit 1987 Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Er arbeitet als Oberstudiendirektor an einem Gymnasium in Bayern. Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt „Pisa und die Angst vor der Wahrheit“ (JF 30/05). Foto: Schnuller-Englisch: Schon Kleinkinder im Kindergarten für den globalen Wettbewerb „fit“ machen: Das Sündenregister der Schulpolitik und der Pädagogik ist schier endlos

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