Nach den Exzessen des Dritten Reiches stand der Patriotismus, die Liebe zu Land und Leuten, in Deutschland nicht mehr hoch im Kurs. Was von ihm zu retten war, das hatte der Politikwissenschaftler Dolf Sternberger gerettet, als er den Verfassungspatriotismus zur einzig legitimen Form von deutschem Nachkriegs-Patriotismus ausrief.
Der neue Begriff machte schnell die Runde, er klang freundlicher als das häßliche Kürzel von der FdGO, mit dem die progressive Linke ihre Verachtung für das Grundgesetz zu umschreiben pflegte. Sie konnte und wollte in der verfassungsmäßigen Ordnung nicht mehr erkennen als eine Zwischenstation auf dem Weg ins Paradies der grenzenlosen Güterfülle.
Patriotismus war der Linken schon immer suspekt. Robert Habeck, der Generalstabschef des Grünen Frontkämpferbundes, findet ihn rundheraus „zum Kotzen“. Seit er an der Regierung ist, sitzt ihm nun aber noch ein zweiter Kotzbrocken im Halse, die Verfassung. Sie ist dazu da, den Machthabern Grenzen zu setzen; das macht sie ihnen lästig.
Mit dem Grundgesetz unter dem Arm
Ein Innenminister, lang ist’s her, wollte nicht von früh bis spät mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen, und Robert Habeck will das auch nicht. Nachdem er mit seinen Transformationsphantasien vor Gericht gescheitert war, wurde er bockig und versprach, mit der Transformation weiterzumachen, unabhängig davon, was die Verfassung dazu sagt und die Justiz dazu meint. Wenn die Instanzen, wenn Parlamente und Gerichte dem Fortschritt im Wege stehen, dann müssen sie eben weichen.
Angela Merkel hatte den Weg gewiesen, als sie, betont beiläufig im Zuge einer Pressekonferenz, darauf drang, die demokratisch einwandfreie Wahl eines Ministerpräsidenten rückgängig zu machen. Sie wußte: Wer auf das Wahlrecht anlegt, der trifft die Verfassung ins Herz. Das Grundgesetz zählt ja nicht zufällig die freie, gleiche und geheime Wahl zu denjenigen Bestimmungen, die auch mit qualifizierter Mehrheit nicht verändert werden dürfen.
Um ihre verfassungswidrige Forderung zu begründen, berief sich Frau Merkel denn auch gar nicht erst auf irgendwelche Bundes-, Landes- oder Grundgesetze, sondern kurzerhand auf sich selbst und ihre Partei, die CDU. Das war zwar gegen die Verfassung, gab die Wirklichkeit, wie sie im Laufe ihrer viel zu langen Kanzlerschaft eingerissen war, aber ganz gut wider. Früher sprach man in solchen Fällen von Autoritarismus, heute nennt man das Postdemokratie.
Der dritte Putsch
Das Coronavirus erlaubte ihr und ihren Trabanten dann den zweiten Putsch, diesmal gerichtet gegen die individuellen Freiheitsrechte. Um klarzumachen, was die Uhr geschlagen hatte, wurden sie nicht etwa durch Gesetz, sondern auf dem Verordnungswege außer Kraft gesetzt. Seither gelten sie nur unter Vorbehalt, sie sind gerade so viel wert, wie die Regierung das will. Habecks Transformationsspektakel war nun der dritte Putsch. Wie alle anderen Wörter aus dem Sprachschatz der Grünen, wie Fortschritt und Modernisierung, Diversität und Selbstbestimmung, zählt auch die Transformation zu jenen unbestimmten Rechtsbegriffen, die alles erlauben, weil sie nichts bedeuten. Die Verfassung wird nicht mehr abgeschafft, sie wird, weil unbequem, eskamotiert, durch Tricks weggezaubert.
Das Steuerbewilligungsrecht, ursprünglichstes aller parlamentarischen Vorrechte, hat der Finanzminister unter allerlei Worthülsen versteckt. Er betätigt sich als Hütchenspieler, der die Kugel so lange hin und her scheucht, bis niemand mehr weiß, wo sie liegt. Wie jede ordentliche Verfassung verlangte auch das gute alte Grundgesetz, den Haushaltsplan im voraus aufzustellen, Ausgaben und Einnahmen zum Ausgleich zu bringen und für Schulden nicht mehr Geld auszugeben als für Investitionen.
Nachdem diese lästigen Vorschriften durch die immer noch so genannte Schuldenbremse ersetzt worden waren, wurde die Bremse umgehend wieder ausgesetzt, zum dritten oder vierten Mal in Folge. Die Verfassung ist zur tauben Nuß geworden: schön anzuschauen, aber innen hohl.
Braune und grüne Ideale
Wenn Rolf Mützenich, der Fraktionsvorsitzende der SPD im Deutschen Bundestag, über die außergewöhnlichen Zeiten klagt, dann soll das heißen: Not kennt kein Gebot! Wir mogeln uns am Grundgesetz vorbei. Das Volk wird uns daran nicht hindern, denn das Volk, von dem das Grundgesetz ja noch ganz unbefangen spricht, gibt es nicht mehr. Was es statt dessen gibt, sind „alle, die nun mal da sind“ – eine Art Reisegesellschaft, die ein Programm gebucht hat und auf Erfüllung pocht.
Sie hat ein Recht darauf, von ihrer Führung gehegt und gepflegt zu werden, inzwischen allerdings nicht mehr von Männern wie Robert Ley, sondern von Frauen wie der Familienministerin Lisa Paus. Der Fortschritt besteht darin, daß diese Ideale nicht mehr von Braunen propagiert werden, sondern von Grünen, und daß nicht mehr von Kinderzuschlägen, Familienhilfen oder Mutterkreuzen die Rede ist, sondern von Kindergrundsicherung, Familienservice und Mütterrente.
Angesichts der beiden großen Zukunftsthemen – Wie umgehen mit der neuen Völkerwanderung? Was tun gegen die Gefahr der Erderwärmung? –hat die Regierung jedes Augenmaß verloren. Im einen Fall treibt sie den Aktivismus auf die Spitze, im anderen die Lethargie. Daß der Warnschuß aus Karlsruhe die Rückkehr zu haushaltspolitischer Vernunft bewirken könnte, glaubt mittlerweile keiner mehr; in Sachen Asylrecht, Einwanderung und Flüchtlingswesen ist diese Hoffnung ohnehin schon längst verflogen.
Klammheimliche Freude
Noch vor dreißig Jahren hatten sich die Parteien unter dem Druck der ersten großen Flüchtlingswelle darauf verständigt, das heillos antiquierte Asylrecht zu novellieren. Das Ergebnis, das Abkommen vom Petersberg, war ein schlechter Kompromiß, doch immerhin noch ein Versuch, im Einklang mit der Verfassung zu regieren. Das ist vorbei.
Der ebenso massenhafte wie offenkundige Mißbrauch des politischen Asyls wird von der Regierung achselzuckend, wahrscheinlich sogar mit klammheimlicher Freude hingenommen. Daß eine Änderung der skandalösen Zustände nur in Absprache möglich ist und Absprachen schwierig sind, nimmt sie zum Vorwand, den Dingen ihren Lauf zu lassen. So wird das Grundgesetz zur Makulatur.
Seitdem es auch in Deutschland eine Alternative zur Regierungspolitik gibt, hat der Verfassungsschutz seine Tätigkeit ausgeweitet; doch immer noch nicht weit genug. Er hat noch nicht begriffen, daß die Verfassung keineswegs nur von unten, sondern auch von oben, sogar von ganz weit oben angegriffen und veralbert wird. Überraschend ist das nicht, denn wer den Patriotismus zum Kotzen finden, der pfeift auch gern auf die Verfassung.
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Dr. Konrad Adam, Jahrgang 1942, war Feuilletonredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Chefkorrespondent der Welt. Adam beteiligte sich 2013 an der Gründung der Alternative für Deutschland (AfD) und war bis 2015 einer ihrer Bundessprecher.