BERLIN. SPD-Vize Ralf Stegner hat Friedrich Merz (CDU) vorgeworfen, rechte Spukgeschichten über die Flüchtlingspolitik Angela Merkels (CDU) zu verbreiten. „Seine Behauptung, 2015 seien die Grenzen geöffnet worden, ist ein Schauermärchen, das in rechten Kreisen verbreitet wird, um die humanitäre Flüchtlingspolitik zu diskreditieren und gegen die zu hetzen, die damals zu uns gekommen sind“, sagte Stegner laut Nachrichtenagentur dpa.
Merz, der sich für das Amt des CDU-Bundesvorsitzenden bewirbt, hatte am Sonntag abend in der Sendung „Anne Will“ kritisiert: „Bis heute ist die Frage nicht geklärt, auf welcher Rechtsgrundlage eigentlich die Grenzen geöffnet wurden im September 2015.“ Es sei zwar eine „großartige humanitäre Geste“ gewesen, die Asylsuchenden nach Deutschland zu lassen, dennoch seien die Grenzen für eine Flüchtlingsstrom in bislang nicht dagewesener Größe geöffnet worden.
Grüne bezeichnen Grenzöffnung als Mythos
Dem hielt Grünen-Chefin Annalena Baerbock entgegen, es habe auch damals in der EU keine Binnengrenzen gegeben. „Die Grenzen zwischen Deutschland und Österreich waren zu der Zeit offen, und die Frage ist, ob man sie aktiv zumacht.“ Das sei aber nur in Absprache mit anderen europäischen Partnern und unter der Beachtung von EU-Recht erlaubt. Dies zu betonen, sei wichtig. „Denn auf diesem Mythos wird ja eine ganze Geschichte gestrickt, zu sagen, man hätte Grenzen aktiv geöffnet.
Bereits früher hatte der Grünen-Politiker Konstantin von Notz die Behauptung, Merkel habe die Grenzen geöffnet, als „Dolchstoßlegende unserer Zeit“ zurückgewiesen.
Stegner verglich Merz am Montag wegen seiner Kritik an Merkels Grenzpolitik indirekt mit US-Präsident Donald Trump: „Man kann ja darüber streiten, ob man es gut findet, wenn wie in den USA nun auch in Deutschland Millionäre aus der Finanzindustrie politische Ämter in Volksparteien anstreben“, sagte der SPD-Vize. Die lange Abwesenheit von Merz aus der Politik habe bei diesem aber offenbar zu Wahrnehmungsstörungen geführt.
„Es gibt seit Jahren keine geschlossenen Grenzen“
Die CDU bemüht sich seit längerem, die Ereignisse vom Spätsommer 2015 so darzustellen, als habe es formal keine Grenzöffnung gegeben, da die Grenze zu Österreich ja offen gewesen sei. So antworte die CDU im Januar auf ihrer Internetseite auf die Frage, warum Merkel 2015 für alle Flüchtlinge die Grenzen geöffnet habe?
„Richtig ist: Angela Merkel hat nicht die Grenzen geöffnet. Vielmehr waren – und sind – die meisten Grenzen innerhalb der EU offen. Das war und ist ein wichtiges Ziel für unser Zusammenleben in Europa. So können wir über Grenzen hinweg frei reisen, leben, arbeiten und handeln. Statt dessen sollten die EU-Außengrenzen besser gesichert werden. Das hat so nicht stattgefunden.“
Unterstützt wird diese Auffassung vom Faktenfinder der Tageschau. Dieser betonte im Juni, die Formulierung, Merkel habe die Grenzen geöffnet, sei „grundfalsch, weil es schon seit Jahren keine geschlossenen Grenzen mehr gibt innerhalb des so genannten Schengen-Raums. Es konnten also im Jahr 2015 auch keine Grenzen geöffnet werden.“
„EU-Freizügigkeit gilt nur für Inhaber von Paß mit Schengen-Visum“
Genau das jedoch bestreitet der Rechtswissenschaftler Ulrich Vosgerau: „Auch vor dem Sommer 2015 durften Asylbewerber, die über andere Staaten in die EU gelangt waren, keine EU-Binnengrenzen überschreiten und nicht nach Deutschland einreisen. Die EU-Freizügigkeit galt und gilt insofern immer nur für Inhaber von Paß und Schengen-Visum, und die Dublin-III-Verordnung verbot es auch und verbietet es noch immer“, schrieb Vosgerau in einem Beitrag für die JF.
Generell könne Deutschland an der Grenze jeden zurückweisen, der keinen Paß mit Schengen-Visum habe oder bei dem es Hinweise gebe, daß ein anderer EU-Mitgliedsstaat, nämlich der Ersteinreisestaat, für sein Asylverfahren zuständig sei. Gleiches gelte für Asylsuchende, die aus sicheren Drittstaaten einreisen wollten. Bis zum Masterplan von Bundesinnenminister Horst Seehofer habe die Bundespolizei jedoch die Anordnung gehabt, jeden einreisen zu lassen, der an der Grenze das Wort Asyl sage. Und genau das sei eine offensichtlich rechtswidrige Grenzöffnung gewesen, die bis heute noch weitgehend gelte. (krk)