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Geschichtspolitik: Grass und die Folgen

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Geschichtspolitik
 

Grass und die Folgen

Die „Grass-Debatte“ zeigt einen Grad ideologischer Geschlossenheit der politisch-mediale Klasse, der im Hinblick auf zwei zentrale Behauptungen gar keine Abweichung mehr duldet: Auschwitz als „Gründungsmythos“ und die Verteidigung Israels als „Staatsräson“ der Bundesrepublik. Ein Kommentar von Karlheinz Weißmann.
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Eingang des Konzentrationslagers Auschwitz: Gründungsmythos und Staatsräison der BRD Foto: Wikimedia mit CC-Lizenz https://tinyurl.com/hkztc

Was bleibt von der „Grass-Debatte“? Daß es einem Veteranen des Literaturbetriebs noch einmal gelang, sich in Szene zu setzen? Daß Michel Friedman alles vergeben und vergessen ist? Daß jeder, von dem man es erwarten durfte, sagte, was man von ihm erwarten durfte? Daß die bestallten Wächter des gesellschaftlichen Konsenses ihren Dienst versahen? Daß in der Sache nichts herausgekommen ist?

Zumindest letzteres kann niemanden überraschen. Das hängt einmal mit der Dürftigkeit und Grobschlächtigkeit des Gedichts zusammen, das Grass geliefert hat. Aber auch damit, daß die politisch-mediale Klasse einen Grad ideologischer Geschlossenheit erreicht, der im Hinblick auf zwei zentrale Behauptungen gar keine Abweichung mehr duldet: Auschwitz als „Gründungsmythos“ (Joschka Fischer) und die Verteidigung Israels als „Staatsräson“ (Angela Merkel) der Bundesrepublik.

Alles, was sonst in den letzten Wochen an Phrasen über den bleibenden oder neuen Antisemitismus der Deutschen, Kontinuität und Diskontinuität im Weltbild eines ehemaligen Waffen-SS-Manns, den Vergleich von Israel und DDR zu hören war, tritt demgegenüber in den Hintergrund oder erhält seine Bedeutsamkeit nur, wenn man einen Bezug auf die beiden genannten Formeln herstellt.

Bezugnahme auf „Gründungsmythos“ und „Staatsräson“

Es handelt sich bei den Bezugnahmen auf „Gründungsmythos“ und „Staatsräson“ um theologische, genauer: politisch-theologische, Formeln. Darüber kann auch die Rede von der Staatsräson nicht hinwegtäuschen, denn der liegt die Behauptung zugrunde, daß die Verantwortung der Deutschen (heute) für Israel (heute) aus den Taten von Deutschen (damals) an Juden (damals) resultiere. Solche Sinnkonstruktion ergibt sich nicht zwingend aus der Vergangenheit, sondern als Folge einer bestimmten Deutung, vorgenommen und durchgesetzt von denen, die die Macht dazu haben, als Ersatz früherer Deutungen und in Abwehr konkurrierender.

Allerdings muß ein politisch-theologischer Satz auch Glauben finden, und seine Verfechter müssen auf Gerngläubigkeit hoffen. Die fördert nichts so sehr wie eine große Erzählung, ein Mythos eben, eine möglichst bildhafte, in klaren Antagonismen gehaltene, dramatische und in einem Entscheidungsakt zwischen Gut und Böse aufgipfelnde Geschichte.

Die Erzählung von „Auschwitz“, von der untilgbaren Schuld, die Wir in der großen Schlacht zwischen Gut und Böse auf uns geladen haben, als Wir auf die Seite des Bösen traten gegen die Guten und die Juden der Vernichtung preisgaben, bevor sie durch eine Fügung Gottes oder der Vorsehung vom bewaffneten Arm der Menschheit im letzten Moment gerettet und Wir niedergeworfen wurden, woraufhin Wir zur Erkenntnis kamen und dem Bösen absagten, weshalb Wir nicht vollständig ausgetilgt wurden, aber das Kainsmal tragen, auf daß jeder sieht und Wir selbst nie vergessen, was Wir getan haben, daß Wir nichtswürdig sind weil Nachkommen von Nichtswürdigen.

Weder den Deutschen noch Juden der Erlebnisgeneration zumutbar

Ohne Zweifel hat dieser Entwurf der deutschen Vergangenheit alle Züge eines Mythos. Aber – und das ist für diesen Zusammenhang bedeutsam – um den Gründungsmythos der Bundesrepublik handelt es sich nicht. Weder den Deutschen noch den Juden der Erlebnisgeneration hätte man eine derartige Interpretation anzubieten gewagt. Die wechselseitigen Beziehungen waren heikel, die führenden Repräsentanten auf deutscher wie auf jüdischer beziehungsweise israelischer Seite wußten, daß sich Fortschritte nur erreichen ließen, wenn man auf Empfindlichkeiten Rücksicht nahm.

Das Gemeinte kann daran deutlich gemacht werden, daß es nach 1945 zwar eine Bereitschaft zu Wiedergutmachungsleistungen gab, Adenauer die aber ausdrücklich mit einer Zurückweisung der Kollektivschuldthese koppelte – „Das deutsche Volk hat in seiner überwiegenden Mehrheit die an den Juden begangenen Verbrechen verabscheut und hat sich an ihnen nicht beteiligt“ –, daß er die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen ablehnte, aus Rücksicht auf die prekäre Situation im Nahen Osten und um das gute Verhältnis der Bundesrepublik zu den arabischen Staaten nicht zu gefährden, daß er noch 1966 mit dem Abbruch seiner Israelreise drohte, als der amtierende Ministerpräsident Eschkol die Gelegenheit zu einem Affront nutzte, dem Adenauer entgegentrat, auch mit dem Hinweis, schließlich habe Hitler genauso viele Deutsche wie Juden getötet.

Zeigt Grass Symptome für Häresiebereitschaft

Auschwitz als „Mythos“ hängt nicht mit der Gründung, sondern mit der Umgründung Nachkriegsdeutschlands zusammen, die in den sechziger Jahren ansetzte und in den achtziger Jahren zur Vollendung kam. Was heute als geschichtspolitische Selbstverständlichkeit gilt, ist in Wirklichkeit das Ergebnis erfolgreicher linker Einflußnahme, bürgerlicher Feigheit und massenhafter Desinformation. Das ist oft genug festgehalten und analysiert worden, auch in bezug auf seine fatalen Wirkungen, wenn etwa die Festlegung der Diplomatie unseres Staates auf einer „Politik der Schuld“ fußen soll. Aber eine Politische Theologie ist nicht zu widerlegen durch Hinweis auf ihre Unsinnigkeit oder innere Widersprüche. Sicher kann Aufklärung Glaubensbereitschaft beschädigen, aber die Erschütterung muß nachhaltiger sein, wenn sie die Gerngläubigkeit der Menschen treffen soll.

Vielleicht ist das Gedicht von Grass tatsächlich ein Symptom für Häresiebereitschaft. Aber wenn, dann wird das Establishment, das sich als moralische Elite versteht, in seiner Position dadurch kaum erschüttert. Das wirksamste Mittel im Kampf gegen eine Politische Theologie ist noch immer eine andere Politische Theologie, es genügt nicht, eine große Erzählung zu unterbrechen, die im Umlauf ist, man muß ihr eine Gegenerzählung konfrontieren.

JF 17/12

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