Der Schrecken, er nimmt kein Ende: „Genug!“, schreit eine Frau am Sonntag verzweifelt in das Mikrofon des israelischen TV-Kanals 12: „Wir haben keine Kräfte für diesen Schmerz! Was passiert hier, in diesem Staat? Ich will mein Kind!“ Von ihrem Sohn Oz, 24, hat sie seit Samstag kein Lebenszeichen mehr bekommen. Er war auf einer Party nahe des Gazastreifens unterwegs.
Eine andere Frau teilt dasselbe Schicksal: Sie geht von Krankenhaus zu Krankenhaus, sucht ihre Tochter, von der sie seit Samstag nichts mehr gehört hat. Zunächst noch ruhig, dann immer verzweifelter spricht sie in das Mikrofon: „Ich wende mich an den ganzen Staat Israel: Helft mir, meine Tochter zu finden! Das ist meine Tochter! Ich habe nicht viele Kinder!“
Tote werden verlesen, Angehörige identifiziert
Es sind nur zwei Schicksale von unzählbar vielen, mit dem man an diesem Tag nach der Stunde 0 konfrontiert wird: Unzählige Israelis werden vermißt. Der Staat hat eine Anlaufstelle eingerichtet: Angehörige sollen Gegenstände mit DNA einreichen.
Gleichzeitig identifizieren immer mehr Menschen entführte Angehörige auf Videos, die aus dem Gazastreifen um die Welt gehen. Es ist klar: Die zahlreichen fast surrealen Aufnahmen, die bereits gestern im Internet kursierten, waren echt. Auch das einer alten israelischen Frau zum Beispiel, die auf einem Golfwagen durch den Gazastreifen gefahren wird. Israel spricht von mehr als 100 Gefangenen der Hamas.
Parallel steigen die Todeszahlen Stunde um Stunde: Der eine Fernsehsender vermeldet noch 500 Tote, während der andere schon 600 zählt. Im TV werden die Namen der Toten verlesen – ein Name nach dem anderen, Zivilisten wie Soldaten, viele regelrecht massakriert. Der Raketenbeschuß, der auch am Sonntag – wenn auch mit geringerer Intensität und Reichweite – anhält, ist da fast nur noch eine Randnotiz. Dabei richtet auch er weiter Zerstörung an, es kommt zu Einschlägen.
Ein nationales Trauma für Israelis
Diese Tage, sie werden tausende, vielleicht zehntausende direkt Betroffene traumatisiert zurücklassen – und mit ihnen eine gesamte Nation. Wie konnte das passieren?, fragt sich das Land. Wo war die Armee, „die beste der Welt“, wie eine der oben zitierten Frauen feststellte? Wo waren Geheimdienste, als offenbar hunderte Terroristen ins Land strömten? Mossad? Schabak? Viele Betroffene fühlen sich auch jetzt noch von Regierung und Behörden im Stich gelassen.
Selbst am Sonntag haben die Sicherheitskräfte die Lage innerhalb der eigenen Grenze noch nicht vollständig im Griff. In der Nacht gelang es ihnen unter anderem, eine große Geiselnahme im Kibbutz Be’eri zu beenden. In der Stadt Sderot konnte eine Polizeistation zurückerobert werden. Doch am Tag werden immer noch Gefechte aus verschiedenen Orten gemeldet; Terroristen auf dem Weg nach Aschdod werden in einem Auto gestoppt.
Premierminister Benjamin Netanjahu dürfte sich nach dem Krieg gemeinsam mit der politischen und militärischen Führung aller Voraussicht nach mit einer Untersuchungskommission konfrontiert sehen. So wie es eine nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973 gegeben hatte. Premierministerin Golda Me’ir war im Folgejahr zurückgetreten.
In Israel haben für solche Diskussionen um die politische Verantwortung aktuell aber nur wenige einen Kopf: Ja’ir Lapid, Oppositionsführer, der politisch fast so tief mit Netanjahu verfeindet ist, wie man es sich nur vorstellen kann, hat diesem die Bildung einer Notfallregierung angeboten, wie es sie etwa im Sechs-Tage-Krieg gab. Netanjahu hat das gleiche getan. Vielleicht wird sie tatsächlich gebildet.
Was macht die israelische Armee?
Das Kabinett hat in der Nacht den Kriegszustand verhängt, hohe Zahlen an Reservisten werden mobilisiert. Netanjahu erklärte am Samstagabend, man werde den Krieg gewinnen, aber einen „untragbaren Preis“ zu bezahlen haben. Was passiert sei, habe es im Staat Israel so noch nie gegeben: „Wir werden diesen dunklen Tag rächen“; man werde alle Rückzugsorte der Hamas „in Schutt“ verwandeln. Israel und den Palästinensern stehen schwierige Tage bevor, vielleicht Wochen, vielleicht Monate.
Was das genau bedeutet, ist allerdings nach wie vor unklar: Der jüdische Staat befindet sich auch an diesem Sonntag zwar am Tag nach dem vernichtenden Terrorschlag des Gegners; die eigene Gegenoffensive hat allerdings noch nicht wirklich eingesetzt. Erst muß die akute Bedrohung im Süden gebannt und die Ortschaften an der Grenze evakuiert werden.
Bislang fliegt die Luftwaffe Einsätze im Gazastreifen, macht vielstöckige Gebäude mit Hamas-Bezug dem Boden gleich. Es ist mit zahlreichen Toten zu rechnen. Bei dieser Reaktion, die die Israelis und auch die Palästinenser im Gazastreifen aus den früheren „Runden“ schon allzu gut kennen, wird es aber kaum bleiben können.
Forderung nach Vernichtung der Hamas
Zu oft hatte die Regierung in der Vergangenheit danach behauptet, man habe die eigene Abschreckung wiederhergestellt und dem Gegner einen vernichtenden Schlag verpaßt. 2021 bejubelte die Armee, daß sie ein riesiges Tunnelnetzwerk innerhalb der Küstenenklave und damit das „Rückgrat“ der Hamas zerstört habe. Das Ergebnis sah man am Samstag.
Entsprechend rufen israelische Kommentatoren nun dazu auf, die Hamas endgültig und vollständig zu vernichten. Die bisherige Sicherheitsdoktrin steht damit radikal infrage. Sie hatte auf ein Auskommen mit der Terrororganisation bei Inkaufnahme immer wiederkehrender, aber beschränkter Eskalationen, gesetzt. Dies beinhaltete etwa auch, daß Israel Millionengelder Katars in die Küstenenklave passieren ließ.
Doch ist eine Vernichtung der Hamas überhaupt möglich? Die Islamisten sind auch im Westjordanland immer stärker geworden und haben bei der Bevölkerung die größte Anhängerschaft unter allen palästinensischen Parteien. Eine Bodenoffensive und eine Besetzung des Gazastreifens wären jedenfalls unausweichlich. Dabei will in Israel kaum einer freiwillig weitere zwei Millionen Palästinenser kontrollieren mit all‘ den Problemen, die das nach sich zieht.
Hisbollah schaltet sich ein
Ebenfalls weiterhin beobachten bleibt, ob sich der Krieg noch auf andere Fronten ausweiten könnte. Denkbar ist eine Einbeziehung der terroristischen Hisbollah im Libanon. Sie verfügt über mehr als 100.000 Raketen, die denen der Hamas technisch einiges Voraus haben. Während der vergangenen Gaza-Eskalationen hatte sich die „Partei Gottes“ weitgehend zurückgehalten. Am Sonntagmorgen feuerte sie jedoch mehrere Geschosse auf israelisches Gebiet.
Sowohl die schiitische Hisbollah als auch die sunnitische Hamas werden vom Iran gestützt, aufgerüstet und partiell gesteuert. Denkbar ist daher, daß irgendwann auch der „Kopf des Terrors“ (so Israel) selbst mit ins Spiel kommt. Allerdings sind entsprechende Einschätzungen hochspekulativ.
US-Präsident Joe Biden erklärte am Samstag jedenfalls in einer Ansprache mit Blick auf eine mögliche Ausweitung des Krieges: „Dies ist nicht der Moment für irgendeine Partei, die Israel feindlich gesinnt ist, diese Angriffe zum eigenen Vorteil auszunutzen. Die Welt schaut genau hin.“ Das war wohl auch als Drohung zu verstehen.