Die Straße von Lugansk nach Lyssytschansk ist ständig durch im Asphalt steckende Raketen und durch von Explosionen verursachte Schlaglöcher blockiert. Um weiterzukommen, muß man immer wieder die Hauptroute verlassen und auf dem gelben, von der Sommersonne ausgetrockneten Gras der ukrainischen Steppe weiterfahren. Hier und da sieht man die schwarzen Flecken verbrannter Bäume und die tiefen, halb zerstörten Gräben. Dies sind Anzeichen für die Kämpfe, die hier in den letzten Wochen stattgefunden und zu großen Bränden geführt haben.
In diesen Gebieten stießen die russische Armee, tschetschenische Truppen und prorussische Milizen aus dem Donbass mit der ukrainischen Armee zusammen, um deren Vormarsch zu verhindern. Trotz heftigen Widerstands mußten sich die Kiewer Männer zurückziehen und verloren die Kontrolle über das gesamte Land in der Oblast Lugansk sowie über die wichtigsten Städte, die 2014 unter Kiewer Kontrolle geblieben waren: Sjewjerodonezk und Lyssytschansk. Jetzt haben sich Wladimir Selenskijs Soldaten einige Dutzend Kilometer weiter in der benachbarten Region Donezk verschanzt, wo sie den Kampf fortsetzen.
Unterwegs ist niemand zu sehen außer ein paar Passanten. In den abgelegenen Dörfern in der Steppe, von denen viele nur noch aus zerstörten oder zerbombten Häusern bestehen, leben oft ältere Menschen. Die einzige Präsenz außer ihnen sind die russischen und prorussischen Soldaten, die an den Kontrollpunkten stationiert sind. Über ihnen wehen in der Regel drei Fahnen: die Trikolore der russischen Nationalflagge, die Flagge der selbsternannten Volksrepublik Lugansk und die rote Flagge mit Hammer und Sichel.
Dieses Symbol begegnet immer wieder an allen Orten, die die Russen gegen die Ukrainer erobern. Man sieht sie in Städten, Dörfern, entlang der Straßen, in den Häusern der Menschen, in Kasernen, in Verwaltungsbüros. Die Russen rücken nämlich nicht nur militärisch vor, sondern exportieren auch ihre eigene Symbolik und ein neues Wohlfahrtssystem als Alternative zum ukrainischen, das sie den Bewohnern der eroberten Gebiete anbieten. Das Ziel ist klar: diese Bevölkerungsgruppen dauerhaft in ihr System zu integrieren und in der Ukraine die Grundlagen für ihre dauerhafte Präsenz zu schaffen.
„Sehen Sie hier, das ist eine amerikanische Rakete“
Vor den Toren von Lyssytschansk angekommen, überquert man auf von der russischen Armee errichteten Behelfsbrücken den Fluß Sjewjerskij Donez. Von den Brücken, die normalerweise benutzt werden, sind nur noch Reste übrig, weil sie von den sich zurückziehenden Ukrainern gesprengt wurden, um den Vormarsch der Kreml-Panzer abzuwehren. Selbst hier, auf den Straßen, ist kaum jemand zu sehen. Die meisten der 120.000 Einwohner dieser Stadt sind wegen des Krieges geflohen, während nur einige tausend beschlossen haben, zu bleiben. Lyssytschansk war monatelang die letzte ukrainische Bastion in der Region Lugansk. Anfang Juli zogen sich die Kiewer Truppen jedoch zurück, und die Stadt fiel in russische Hände, ohne daß es im Stadtgebiet zu allzu blutigen Kämpfen kam. Im Vergleich zu anderen Städten in der von den Russen eroberten Region wurden hier nur wenige Gebäude zerstört.
Auf den Straßen wird die Stille nur durch das Geräusch von Explosionen im Hintergrund unterbrochen, die von den etwa zwanzig Kilometer entfernten Schlachtfeldern kommen. „Viele der verbliebenen Bürger verlassen ihre Häuser nicht, weil die Stadt immer noch dem ukrainischen Feuer ausgesetzt ist“, sagt Andrej Skoryj, der kürzlich von den Russen eingesetzte neue Bürgermeister. „In den letzten Tagen haben sie ständig auf uns geschossen und dabei nur zivile Ziele getroffen. Sehen Sie hier, das ist eine amerikanische Rakete“, sagt er und hält die Überreste einer Rakete in der Hand. Kräftige Statur, Militärjacke und Hemd, um den Hals hat Skoryj eine palästinensische Kuffiah gewickelt. Auf den Ärmel seiner Jacke hat er in Schulterhöhe einen roten Aufnäher mit Hammer und Sichel genäht.
„Die Sowjetunion war ein Staat, in dem viele Völker friedlich zusammenlebten“, sagt er stolz, „und ich wünschte, es wäre immer noch so. Denn im Jahr 2014 konnte ich nicht akzeptieren, daß in Kiew eine Regierung aus Nazibataillonen eingesetzt werden sollte. Rußland ist das Erbe der Sowjetunion, und dafür kämpfe ich heute.“ Vor dem Krieg war Skoryj stellvertretender Bürgermeister von Lyssytschansk. Nachdem er wegen seiner Anti-Maidan-Haltung geflohen war, verbrachte er acht Jahre an der Front und führte die prorussischen Milizen der selbsternannten Lugansker Republik an.
Sankt-Georgs-Bänder und kommunistische Lieder
Die Erinnerung an die Sowjetunion ist eines der wichtigsten Instrumente der Russen, um sich der Bevölkerung in den von ihnen eroberten Gebieten vertraut zu machen. Neben dem sprachlichen und kulturellen Element wollen die kremltreuen Soldaten und politischen Aktivisten den Bürgern zeigen, daß sie ein gemeinsames historisches Erbe hätten. So verteilen sie auf ihrem Vormarsch Geräte mit Hammer und Sichel, Heiligenbildchen mit den Gesichtern der Helden des Zweiten Weltkriegs, Flugblätter, die Parallelen zwischen dem heutigen Krieg und dem damaligen Krieg gegen Hitler-Deutschland herstellen, und Sankt-Georgs-Bänder. Ständig werden lauthals Lieder aus kommunistischer Zeit, die jetzt als „patriotisch“ bezeichnet werden, gesungen. Die Verbreitung dieser Symbole entspricht nicht dem Versuch, ein planwirtschaftliches System durchzusetzen, sondern vielmehr eine gemeinsame Vergangenheit und Identität zu behaupten. Und damit auch eine gemeinsame Zukunft.
Die wenigen Menschen auf den Straßen von Lyssytschansk sind fast nur an drei Stellen anzutreffen: vor einem Lebensmittelgeschäft, vor der örtlichen Parteizentrale von Einiges Rußland und um eine Straßen-Wasserquelle herum. Hier stehen Dutzende Menschen Schlange, um ihre von zu Hause mitgebrachten Kanister und Krüge zu füllen. In der Tat fehlt es der Stadt an Strom, Wasser, Gas und Lebensmitteln. „Damit kann ich mich heute abend wenigstens waschen“, sagt Sergej, 48, während er den vollen Kanister schleppt. „Dann werde ich im Hauptquartier der Vereinigten Russischen Föderation vorbeischauen und ein Paket mit Vorräten abholen. Sie helfen uns, so gut sie können, aber es fehlt uns noch an vielen Dingen.“
Rußland setzt neue Verwalter ein
Einiges Rußland ist die Partei des russischen Präsidenten Wladimir Putin, die mit diesem Krieg immer mehr die Funktion eines Parteistaates übernimmt. Sie spielt eine Schlüsselrolle bei der Bereitstellung humanitärer Hilfe für die Bevölkerung und bei der Integration lokaler Institutionen in das russische Energiesystem. Ihr Hauptquartier in Lyssytschansk ist ein verlassenes Schulgebäude, über dem jetzt russische Flaggen wehen. Die Klassenzimmer wurden mit Tüten mit Lebensmitteln und Artikeln des Grundbedarfs gefüllt, die von Freiwilligen an die Bedürftigen verteilt werden.
„Ohne sie wüßte ich nicht, was ich tun sollte“, sagt eine Frau mittleren Alters, die ihre Ration abholen will. „Diese Hilfe ist die einzige Form des Überlebens für uns, die wir nicht geflohen sind.“ Die Russen leisten jedoch nicht nur humanitäre Hilfe. Die Bevölkerung der eroberten Gebiete kann sich für Renten, Subventionen und Wirtschaftshilfe anmelden, die im allgemeinen günstiger sind als die von der Ukraine angebotenen. Und nicht nur das. Die russische Regierung und die Partei Einiges Rußland entsenden neue Verwalter in die eroberten Gebiete – häufig Einheimische, die 2014 nach Rußland geflohen sind –, um die zusammen mit ukrainischen Soldaten geflohenen Lokalpolitiker zu ersetzen. Schließlich erhält die lokale Bevölkerung russische Pässe, mit denen sie an Volksabstimmungen teilnehmen kann, die von den neuen prorussischen Verwaltungen organisiert werden. Damit wird die förmliche Angliederung dieser Gebiete an die Russische Föderation bestätigt.
„Wir erklären, warum der Beitritt von Vorteil ist“
In der Region Lugansk wird derzeit ein Referendum organisiert. Zu dessen Organisatoren gehört Igor Rjabuskin, ein Gewerkschafter und Parlamentsabgeordneter der selbsternannten Volksrepublik Lugansk. Wie viele seiner Kollegen hat er sich längst Einiges Rußland angeschlossen. „Wir bereiten die Durchführung des Referendums vor und erklären der Bevölkerung, warum der Beitritt zur Russischen Föderation von Vorteil ist. Die Mehrheit der Bevölkerung ist bereits davon überzeugt, daß dies gut ist, aber es ist wichtig, diese Sensibilisierungskampagne vor allem in den Gebieten durchzuführen, die wir kürzlich erobert haben, wo die Bevölkerung acht Jahre lang Opfer der ukrainischen Propaganda war.“ Die Termine für das Referendum stehen noch nicht fest. Sicher ist jedoch, daß bald ein bedeutender Teil der Ukraine offiziell zu Rußland gehören wird.
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Luca Steinmann ist Reporter und berichtet für deutsche und internationale Medien aus Krisengebieten, für die JUNGE FREIHEIT unter anderem aus Bergkarabach und mehrfach aus Mariupol.
JF 35/22