Amy Coney Barrett behielt einen kühlen Kopf. Auch als die Demokraten im US-Senat nachsetzten und immer wieder ihre Gesinnung in Sachen Abtreibung, Homo-Ehe und Gesundheitsreform bloßstellen wollten, blieb die von Trump ernannte Kandidatin für den vakanten Sitz im Obersten Gerichtshof ruhig und gelassen. Auf Fragen, die vor allem die linksliberale Senatorin Feinstein wiederholte, wiederholte sie auch ihre Antwort: Sie könne nur entscheiden, wenn sie den Fall vor sich sehe. Und Fälle, die entschieden sind, seien eben entschieden.
Es war eigentlich egal, was sie sagte. Die Demokraten wollen die 48jährige nicht im Supreme Court sehen. Denn dort würde sie die Gruppe der konservativen Richter stärken und gegen die linksliberalen Richter zu einem nominalen Kräfteverhältnis von sechs zu drei führen. Hinzu kommt: Eine Woche nach der Wahl wird der Gerichtshof über die Gesundheitsreform beraten, ein Erbe aus der Obama-Ära. Nun fürchten die Demokraten, daß die satte Mehrheit der konservativen Richter unabhängig vom Ausgang der Wahl die Gesundheitsreform verwirft und demnächst auch noch die Urteile über Abtreibung und Homo-Ehe revidieren wird.
Das ist nicht ausgeschlossen, aber auch nicht sicher. Die Richter sind unabhängig, auch von dem Präsidenten, der sie ernannt hat. Denn ihre Ernennung und Bestätigung durch den Senat gilt auf Lebenszeit. So will es die Verfassung und deshalb kann man es schon historisch nennen, wenn ein Präsident in einer Amtszeit gleich drei Richter ernennen kann. Vor Amy Coney Barrett hat Trump 2017 Neil Gorsuch und 2019 Brett Kavanaugh ernannt und mit der Mehrheit der Republikaner im Senat in den Supreme Court gehievt.
Trump dürfte sich durchsetzen
Diesmal könnte es noch knapp werden. Zwei der republikanischen Senatoren haben angekündigt, sich gegen Barrett zu entscheiden. Jetzt darf höchstens einer noch krank werden oder sonstwie ausfallen, denn bei einem Patt von 50 zu 50 entscheidet noch der Vizepräsident und Mike Pence wäre selbstverständlich für Barrett.
Trumps Rechung dürfte also aufgehen. Sein Kalkül aber, bei einem ungewissen oder unentschiedenen Ausgang der Wahlen auf die Richter als letzte Instanz zu setzen, hat viele Unbekannte. Die Richter sind wirklich unabhängig und auch nicht zu Dank für ihre Ernennung durch Trump verpflichtet. Gleichwohl ist die Wahrscheinlichkeit höher, daß die Mehrheit der konservativen Richter in so einem Fall sich eher gegen Joe Biden entscheiden würde, der Abtreibung billigt und auch mit der Homo-Ehe kein Problem hat.
Gegen Biden – das gilt gerade für Amy Coney Barrett. Die Mutter von fünf eigenen Kindern und zwei adoptierten Waisenkindern aus Haiti lebt ein traditionelles Familienbild – wie übrigens die Mehrheit der Amerikaner – und sieht Abtreibung anders als die meisten Politiker in Europa, insbesondere in Deutschland, nicht als Lösung aus einer wie immer entstandenen Notlage.
Der Geist schafft Gesetze
Das hat, auch wenn sie sagt, das Gesetz sei ihre Richtschnur, selbstverständlich mit ihrem katholischen Glauben zu tun. Religion ordnet, Glauben schafft Hierarchie. An Gott glauben, heißt zuallererst: einen Schöpfer anerkennen. Aus dieser ersten, existentiellen Beziehung leiten sich, je nach Intensität des Glaubenslebens, die Beziehungen zu anderen Menschen ab.
Wie die erste Beziehung gestaltet und gelebt wird, ob überhaupt, ob in einer persönlichen und liebevollen Beziehung oder in einer Geste permanenter Unterwerfung (wie im Islam), das macht das Gottes-und Menschenbild aus, das regelt entsprechend dann auch die Beziehungen der Menschen untereinander. Aus diesen Beziehungen entstehen Haltungen und aus der Gesamtheit der Haltungen, Beziehungen und Umweltbedingungen in der jeweiligen Zeit und Geschichte entsteht Kultur. Hier driften Amerika und Europa auseinander, mit und ohne Trump.
Sicher, Recht strukturiert Gesellschaft. Gesetze schaffen Recht. Aber es ist letztlich der Geist, der Gesetze schafft. Die katholische Prägung von vier Richtern und insbesondere von Amy Coney Barrett wird sie bei manchen Gesetzen anders abwägen lassen als ihre progressiven Kollegen. Rechtssicherheit ist für alle eine ernste Größe. Wenn es aber um das fundamentale Recht, das Recht auf Leben geht, wird ein ernsthaft katholischer Richter nach dem Gesetz des Lebens und dem Recht der Natur urteilen. Zu diesem Thema sagt die amerikanische Verfassung nichts, es war im achtzehnten Jahrhundert kein Thema.
Barrett bekennt ihren Glauben offen
Die Mehrheit der Richter gilt als „Originalisten“, also jener Denkschule folgend, die den Geist der Verfassung von 1787 auslegt. Sie sieht sich und das Gericht als Notar dieser Verfassung, nicht als Treiber oder Getriebene von Zeitgeistströmungen (wie das in Deutschland derzeit der Fall ist). Das macht sie für den aktuellen linksliberalen Zeitgeist zum „Gottseibeiuns“, zum Gespenst der Vergangenheit.
Im Fall von Barrett schrieb der National Review ebenso erstaunt wie klammheimlich begeistert: „Sie redet so selbstverständlich von Gott als ob sie tatsächlich an ihn glaubt.“ Das ist für viele, auch funktionskatholische Europäer befremdlich, für viele Amerikaner aber alltäglich. Dieses Gericht könnte dazu beitragen, dass das Naturrecht in Amerika wieder mehr Geltung erlangt. Und damit die Debatte über die Leitkultur des Westens auch in Europa trotz unserer lauen Lebenslagen neu entfacht.
In kaum einem anderen Begriff wie dem der Leitkultur zeigt sich die Erkenntnis eines französischen Vordenkers des Sozialismus, Pierre Joseph Proudhon (1809-1865), der in seinen „Bekenntnissen eines Revolutionärs“ bemerkte, es sei „überraschend, daß wir auf dem Grund unserer Politik immer die Theologie wiederfinden“. Proudhon war kein Kirchgänger, aber er war offen für Argumente. Er hatte erkannt, dass die Glaubens-und Gewissensfreiheit die Mutter aller Freiheiten ist.
Diese Erkenntnis teilte er mit anderen Denkern Europas, nicht zuletzt mit dem Zeitgenossen Alexis de Tocqueville. Tocqueville sieht gar einen unlöslichen Zusammenhang zwischen Religion und Freiheit, wenn er in seiner Analyse der amerikanischen Demokratie schreibt, daß „man das Reich der Freiheit nicht ohne das der guten Sitten zu errichten und die guten Sitten nicht ohne den Glauben zu festigen vermag“.
Ein Reich der Freiheit und der guten Sitten – wer die Demokratien in Amerika und Europa aus der Vogelperspektive betrachtet, könnte auf die Idee kommen, daß der Westen heute nichts dringender benötigt als gerade das. Die neue Richterin, wenn sie denn gewählt wird, könnte dazu beitragen.