Am Tag nach der Europawahl, die Geschichte machte, erinnerte Timothy Garton Ash im britischen Guardian an König Ludwig XVI. Der hatte am Abend nach dem Sturm auf die Bastille in sein Tagebuch eingetragen: „rien“, nichts. Und heute sei, so der eminente europäische Intellektuelle Ash, Jean-Claude Juncker sozusagen der Ludwig XVI. der EU.
Daß sie so weitermachen würden wie bisher, war in der Tat der erste Impuls der in der EU herrschenden Klasse nach der Abstimmung vom 25. Mai.
Schließlich verfügt die permanente Große Koalition im Europäischen Parlament (EP) immer noch über eine komfortable absolute Mehrheit der 751 Abgeordneten. Schließlich stellt Junckers Europäische Volkspartei (EVP) mit 29 Prozent der Sitze die größte Fraktion im Parlament. Schließlich hatten, so ging die Legende, die Europäer den „Spitzenkandidaten“ Juncker mit leichtem Vorsprung vor Martin Schulz zum künftigen Kommissionspräsidenten gewählt.
„Wir machen weiter“ trotz Volksentscheid in Frankreich und den Niederlanden
Jürgen Habermas, Jahrgang 1929 und ein Sinngeber der alten Bundesrepublik, halluzinierte in der Frankfurter Allgemeinen, es habe eine „erkennbare europaweite Alternative zwischen Juncker und Schulz gegeben“. Zum ersten Mal habe das EP eine „tatsächliche Legitimation“ erfahren. Wie aber hätten die Europäer jemanden wählen sollen, dessen Existenz ihnen entgangen war? Eine Meinungsumfrage des britischen Instituts „Advanced Market Research“ ergab, daß nur acht Prozent der europäischen Wähler den Spitzenkandidaten Juncker kannten. 90 Prozent der Wähler konnten nicht eine einzige der EU-finanzierten Europaparteien wie zum Beispiel die EVP nennen. Die Mehrheit blieb ohnehin zu Hause, und wer sich zur Urne bemühte, stimmte eher innenpolitisch ab oder votierte für Parteien, die keine oder eine andere EU wollen.
Mit den Wahlen 2014 ist der Legitimitätsschwund der EU in ein neues, akutes Stadium eingetreten. Er geht zurück auf das Jahr 2005, als Franzosen und Niederländer die ihnen von den Eliten vorgelegte Verfassung ablehnten, als Juncker wörtlich dekretierte: „Wir machen weiter“, und als die gescheiterte Verfassung dann später mit einigen Abstrichen in den Vertrag von Lissabon geschmuggelt wurde, der bis heute als Rechtsgrundlage der Union dient.
Geht England, folgen womöglich die Niederlande, Schweden und Dänemark
Auch die Europäische Union als typisch bürokratisches Herrschaftssystem bedarf der innerlichen Stützung durch Legitimität. Das Parlament mag indifferent auf das Legitimitätsdefizit reagieren, nicht aber die nationalen Regierungen in London und Paris, wo die Opposition erdrutschartige Siege verbuchte. Bei ihnen liegt nun der Ball, nicht in Brüssel.
Noch laviert Angela Merkel in der Causa Juncker, weil sie einerseits die systemkonformen Abgeordneten ihrer eigenen Partei nicht verprellen möchte, andererseits aber England unbedingt in der EU halten will, worauf auch Washington großen Wert legt. Geht England, dann folgen womöglich die Niederlande, Schweden und Dänemark. David Cameron braucht den Kopf von Juncker, weil Juncker für alles steht, was den Engländern verhaßt ist – für den Weg in den europäischen Bundesstaat, für Einmischung und Umverteilung.
Während die Schulden in der EU weiter ansteigen, wächst in den romanischen Ländern der Widerstand gegen die von Berlin verordnete Austeritätspolitik. Reformmüdigkeit macht sich breit. Damit rückt die nächste Euro-Krise näher und mit ihr der Ruf nach einer finalen Umwandlung der EU in eine Transferunion. Eine Entwicklung, die nicht zuletzt auf Kosten Deutschlands ginge und bei der London mit Sicherheit nicht mit von der Partie wäre.
Die europäische Integration hat den Zenit ihrer Nützlichkeit überschritten
Damit sind die britischen Interessen hundert Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges objektiv gesehen weitgehend deckungsgleich mit den deutschen. Wenn auch nicht mit denen der etablierten Parteien in Berlin, die nicht sehen wollen, daß die europäische Integration, der wir viel zu verdanken haben, den Zenit ihrer Nützlichkeit überschritten hat. Ohne den Euro steckte Südeuropa nicht in der tiefsten Depression seit den dreißiger Jahren. Ohne den Größenwahn und die Regulierungswut der Brüsseler Bürokraten stieße das im Prinzip notwendige Projekt Europa auf weniger Widerwillen. Ohne die Festlegung auf eine „immer engere Union“ (eben dies will Cameron kippen) würden sich Briten, Skandinavier und Franzosen wohler fühlen in der europäischen Gemeinschaft.
Auch den Deutschen wird Merkel, trotz der „nur“ sieben Prozent für die AfD, entgegenkommen müssen. Es gibt Indizien dafür, daß sie versuchen wird, noch vor den nächsten Bundestagswahlen Jens Weidmann, den Präsidenten der Deutschen Bundesbank, an die Spitze der Europäischen Zentralbank zu setzen. Mario Draghi würde dann von dem 88jährigen Giorgio Napolitano das Amt des italienischen Präsidenten übernehmen und sich für Reformen stark machen, die Italien braucht, um in der Eurozone bleiben zu können. Mit Weidmann als Gesicht des Euro würden die Deutschen weniger fremdeln.
Was mit Juncker geschieht, wird Ergebnis eines typischen Kuhhandels hinter den Kulissen sein. Entweder er verzichtet von sich aus, oder er akzeptiert Bedingungen, die auf eine schlankere EU und weniger Zentralismus hinauslaufen und die den Nordeuropäern entgegenkommen. Die Entscheidung werden die Regierungschefs treffen, denen das Recht zusteht, den Kommissionspräsidenten zu nominieren; nicht das scheindemokratische Parlament, nicht der Berufseuropäer Juncker und nicht der Wichtigtuer Martin Schulz.
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Dr. Bruno Bandulet ist Publizist und Herausgeber des Informationsdienstes Gold & Money Intelligence (G&M). Als Journalist war er unter anderem bei der Welt tätig.