In jüngster Zeit steht das Problem der demographischen Entwicklung in ganz Europa im Mittelpunkt der politischen Debatte. Die europäischen Wohlstandsgesellschaften überaltern und schrumpfen gleichzeitig – auch die noch wesentlich ärmeren in Osteuropa. Längere Lebenserwartung, Pillenknick, Frauenemanzipation, der langsame Verfall des traditionellen Familienbegriffes, soziale Freizeitmentalität – man könnte die Liste der Faktoren, die den Geburtenrückgang bestimmen, beliebig verlängern. Selbst im familienfreundlichen Frankreich, wo der Geburtenrückgang nicht so dramatisch wie in Deutschland oder Italien ist, scheint lediglich die hohe Geburtenrate bei den Millionen moslemischer Zuwanderer aus Nordafrika die Statistik umgedreht zu haben. Doch nirgendwo in Europa, ja sogar in der ganzen Welt, könnte die negative demographische Entwicklung mit solcher Wucht in die politischen Strukturen hineinwirken wie in Israel. Ende 2002 hatte Israel eine Bevölkerung von 6,6 Millionen – 80,1 Prozent Juden und 19,9 Prozent Nichtjuden, zum größten Teil muslimische Araber. Das waren 1,9 Prozent mehr Einwohner als 2001. Erstmals seit den 1980er Jahren blieb der Zuwachs unter zwei Prozent. Die Rate des natürlichen Wachstums betrug bis zum vergangenen Jahr bei den israelischen Arabern 3,4 bis 3,7 Prozent jährlich, bei dem jüdischen Bevölkerungsteil 1,4 bis 1,6 Prozent. Die Schere erweitert sich geradezu dramatisch. Der israelische Staat entstand bekanntlich – nach dem Holocaust – als Umsetzung des von Theodor Herzl formulierten zionistischen Ideals, folgerichtig geht der Bevölkerungszuwachs nicht nur auf den natürlichen Zuwachs zurück, sondern zum erheblichem Teil auf die Alija, die Zuwanderung. Seit der Staatsgründung 1948 sind etwa drei Millionen Juden aus aller Welt nach Israel eingewandert. Um den jüdischen Anteil an der Gesamtbevölkerung relativ konstant zu halten, ist nach den vorliegenden Berechnungen eine Einwanderung von jährlich 100.000 bis 200.000 nötig. Masseneinwanderung nach Israel geht dramatisch zurück Ab 1990, nach dem Ende des Kommunismus, erfolgte aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion eine regelrechte Masseneinwanderung nach Israel. Diese ebbte aber 2001 ab, offenbar infolge der „Zweiten Intifada“, des alltäglichen blutigen palästinensischen Terrors. Derzeit kommen lediglich etwa 31.000 Einwanderer im Jahr. Dabei geht es nicht nur um die nackte Angst: Der Terror hat auch verheerende wirtschaftliche Konsequenzen, die Investitionen sind in den beiden letzten Jahren rückläufig gewesen und mit ihnen Hoffnung und Vertrauen der potentiellen jüdischen Einwanderer. Auf lange Sicht bedroht diese Entwicklung existentiell den Grundzug des israelischen Staates – nämlich den eines jüdischen Staates. Die Demographie gerät in offenen Konflikt mit dem zionistischen Ideal. Seit den 1993 unter der Regierung von Itzhak Rabin begonnenen Friedensvereinbarungen von Oslo hat sich allgemein das Konzept von zwei Staaten zwischen Jordan und Mittelmeer herauskristallisiert. Nach der Ablehnung der Vorschläge des damaligen Premiers Ehud Barak, der bereit gewesen war, 97 Prozent der besetzten Gebiete (einschließlich Ostjerusalems) den Palästinensern zurückzugeben, haben die USA eine ganze Reihe von „Friedensplänen“ auf den Tisch gelegt . Doch Mitchell-, Tenet- und Zini-Plan sowie die Road Map – sie allesamt scheiterte an der Terrorkampagne jener palästinensischen Organisationen, die eine maximalistische Forderung stellen: einen einzigen Staat zwischen Jordan und Mittelmeer, und zwar einen palästinensischen Staat, in dem die Juden, insofern sie noch auf dem Gebiet des gegenwärtigen Israel toleriert wären, allemal in der Minderheit bleiben würden, weil gleichzeitig die Rückkehr der inzwischen Millionen Palästina-Flüchtlinge und ihrer Nachkommen, die jahrzehntelang in arabischen Ländern politisch gezielt in Lagern gehalten worden sind, stattfinden sollte. Aber schon jetzt schließt die Demographie eine solche Vorstellung aus, denn die Geburtenrate bei den geschätzten drei Millionen Palästinensern in den besetzten Gebieten beträgt 5,9 Geburten pro Frau (in Gaza liegt die Quote bei 7,4 pro Frau – sie ist weltweit eine der höchsten), während bei den israelischen Juden die Quote durchschnittlich bei 3,0 liegt. Auch aus linken europäischen Kreisen kommt immer wieder der romantische Vorschlag, einen gemeinsamen, föderativen, demokratischen israelisch-palästinensischen Staat zu bilden. Insofern Israel ein jüdischer Staat ist und auch bleiben soll, schließt schon allein der demographische Faktor jede Föderationsvorstellung a priori aus – von dem politischen, dem kulturellem und wirtschaftlichen Gefälle gar nicht zu reden. Andererseits stellt sich bei der hohen Geburtenrate der israelischen Araber im Vergleich mit der jüdischen Bevölkerung Israels die Frage, ob es gelingen könnte, die Einwanderung wieder auf das frühere Niveau zu hieven, um den Proporz der Bevölkerungsanteile wieder wie in den vergangenen Jahrzehnten gehabt herzustellen. Denn im Gegensatz zu den streng jüdisch-orthodoxen Großfamilien leidet die säkulare israelische Gesellschaft an der negativen Auswirkung denselben, demographisch negativ bestimmenden Faktoren wie die europäische Wohlstandsgesellschaft. Schließlich gehört das säkulare Israel organisch zum Abendland – was von einer demographisch negativen Entwicklung zusätzlich veranschaulicht wird: Die Nachfahren jüdischer Einwanderer aus Europa (Aschkenasen) haben – sofern sie keine Orthodoxen („Torahtreue“) sind – meist wenig Kinder. Die Orthodoxen und die Einwanderer aus dem osmanisch-arabischen Raum (sephardische Juden) haben meist viele Kinder. Nimmt man die natürliche Wachstumsquote als einziges Kriterium, gestaltet sich die Zukunft Israels düster. Die demographische Entwicklung kann die hehrsten politischen Ideale zunichte machen.