Während deutsche Politiker aller Bundestagsparteien – mit Ausnahme der CSU – eine Ausweitung der Zuwanderung nach wie vor befürworten, stellen andere europäischen Länder zunehmend die Schattenseiten der Zuwanderung in den Vordergrund. Quintessenz einer Studie des niederländischen Centraal Plan Bureau (CPB), das dem liberal geführtem Wirtschaftsministerium angegliedert ist, ist: Massive Arbeitsimmigration ist kein wirksames Mittel, um die finanziellen Folgen der gesellschaftlichen Überalterung aufzufangen. Bilanziere man die Auswirkungen der Zuwanderung auf der Einnahme- und auf der Ausgabenseite des Staates, so ergibt sich eine deutliche Umverteilung von den Einheimischen zugunsten der Zugewanderten. Zwar seien auf der Einnahmeseite des Staates die von den Zuwanderern geleisteten Zahlungen in die gesetzlichen Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung sowie die gezahlten Steuern zu berücksichtigen; auf der Ausgabenseite aber steigen die Ausgaben der Renten- und Pflegeversicherung und die Ausgaben der Arbeitslosenversicherung, so das CPB in seiner Studie „Immigration and the Dutch Economy“. Nur bei einer Aufenthaltsdauer von 25 Jahren und mehr ergebe sich ein Überschuß der geleisteten über die empfangenen Zahlungen. Die Praxis zeige, daß die nicht-westlichen Arbeitsmigranten im Durchschnitt seltener eine Arbeitsstelle haben und öfter auf Sozialhilfe angewiesen sind. Damit sei auch in Zukunft zu rechnen, so das CPB. In einigen Fällen aber könnte Arbeitsmigration lohnend sein, etwa bei hochqualifizierten Immigranten, die gute Aussichten auf Arbeitsstellen haben, die von der einheimischen Bevölkerung in absehbarer Zeit nicht besetzt werden können. Ähnliches gelte für Berufsgruppen, bei denen es einen internationalen Arbeitsmarkt gibt, wie spezialisierte Wissenschaftler oder Spitzenfußballer. Die Behauptung, Zuwanderung in erheblichem Umfang sei zur Sicherung des Wohlstandes unverzichtbar, weist die niederländische Studie klar zurück. Daneben sei auch mit den gesellschaftlichen und kulturellen Konsequenzen der Zuwanderung zu rechnen, so das CPB. Durch eine Ausweitung der Zuwanderung könnte die angestammte niederländische Bevölkerung in vielen Städten und Regionen zu einer Minderheit im eigenen Land werden. Zwischen 2002 und 2050 werde die Zahl der Immigranten wahrscheinlich weiter zunehmen und ein Drittel der Gesamtbevölkerung erreichen. Die Erhaltung der Integrationsfähigkeit der aufnehmenden Gesellschaft sei von der Politik zu berücksichtigen. Auch sei mit negativen Effekten wie Verkehrstaus, Umweltverschmutzung und Verlust an freiem Raum und Natur zu rechnen. Ähnlich wie in Deutschland wanderten seit den sechziger Jahren zahlreiche „Gastarbeiter“ in die Niederlande ein. Aber bereits mit der Unabhängigkeit Indonesiens 1949 hatte für die Niederlande eine umfangreiche Zuwanderung aus den ehemaligen Kolonialstaaten begonnen. Die schon in den siebziger Jahren begonnene „Minderheitenpolitik“, die der Förderung eigener kultureller Identitäten der Immigranten diente, wurde bis weit in die neunziger Jahre weitergeführt. Lange Zeit galten die Niederlande denn auch als liberales Einwanderungsland. Die Schattenseiten einer zur Indifferenz verkommenen Toleranz und die Probleme mit in den Niederlanden lebenden „Allochthonen“ – so die gängige Bezeichnung für Einwanderer und ihre Nachkommen – machten den Aufstieg des charismatischen Soziologieprofessors Pim Fortuyn möglich. Fortuyn, der kurz vor den Parlamentswahlen im Mai 2002 von einem linksradikalen Tierschutzaktivisten ermordet wurde, brach die stillschweigende Vereinbarung der politischen Eliten, die Integrationsfrage und die Einwanderungspolitik aus der parteipolitischen Konfrontation herauszuhalten. Nach den Wahlen, aus denen die von Fortuyn gegründete Liste Pim Fortuyn (LPF) als zweitstärkste Kraft hervorging, kaum es zu Verschärfungen in der Ausländer- und Zuwanderungspolitik. Auch die Regelungen zum Familiennachzug wurden verschärft. Die Einsicht, daß angesichts der bereits vorhandenen Integrationsprobleme eine wirksame Begrenzung der bereits stattfindenden Zuwanderung erforderlich sei, keineswegs aber eine Ausweitung, hat sich jetzt bei der Mehrheit der niederländischen Parteien durchgesetzt. 2002 nahm die Zahl der Immigranten durch eine strengere Immigrationspolitik erstmals ab. Vor allem die „Familienbildung“ ist aber nach wie vor ein Problem: Niederländische Marokkaner und Türken holen sich für ihre Heirat vorzugsweise eine Frau aus Marokko oder aus der Türkei. 2001 wanderten 20.400 Immigranten in die Niederlande ein. Diese Heirats-Einwanderer stellen die niederländische Gesellschaft vor große Probleme: Zumeist handelt es sich um Frauen, die kein Niederländisch sprechen und kaum über einen Grundschulabschluß verfügen. Jährlich gibt die niederländische Regierung für die Integrationskurse von Immigranten etwa 150 Millionen Euro aus. Vor einem Jahr kam in Deutschland Herwig Brig, Direktor des Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik der Universität Bielefeld, zu einem ähnlichen Ergebnis wie das niederländische CPB. Aus der höheren Geburtenrate der aus weniger entwickelten Ländern Zugezogenen ergebe sich nur ein geringer Verjüngungseffekt, so daß extrem hohe Zuwandererzahlen erforderlich wären. Gelänge es, die Geburtenrate in Deutschland schrittweise auf wenigstens 1,6 Lebendgeborene pro Frau – wie in Frankreich – zu erhöhen, so würde dies ausreichen, um den demographisch bedingten Rückgang des Arbeitskräftepotentials weitgehend aufzufangen. Durch die Kombination familien- und arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen ließen sich die Engpässe auf dem Arbeitsmarkt in den nächsten Jahrzehnten ohne weitere große Zuwanderungen auffangen. Als Ergebnis von Brigs Untersuchung hielt das bayerische Staatsministerium des Innern fest: „Von Zuwanderung profitiert in erster Linie der Immigrant, nicht der Staat.“ (Quelle: Kurzfassung des Gutachtens und Bewertung der Bayerischen Staatsregierung) Brig betonte, daß die Verwirklichung der von der rot-grünen Koalition vorgesehenen Ausweitung der Zuwanderung „eine falsche Weichenstellung von geschichtlicher Tragweite“ wäre. Brigs Studie wurde in der deutschen Öffentlichkeit jedoch kaum beachtet. Nach wie vor hält die deutsche Politik am Ziel einer „migratorischen Kompensationspolitik“ fest: das wachsende Geburtendefizit soll durch immer höhere Zuwanderungen ausgeglichen werden. Die mit dieser Strategie fundamentalen Änderungen der Gesellschaft werden in Kauf genommen oder als etwas Positives („multikulturelle Gesellschaft“) bewertet oder angestrebt. Der Bericht des niederländischen CPB und die Studie von Brig machen jedoch deutlich, daß es weitaus vernünftiger ist, durch eine wirksame Familienpolitik die Geburtenrate an das Niveau von zwei Kindern pro Frau anzunähern und die Zuwanderungen aus dem Ausland allenfalls auf spezielle Qualifikationen zu begrenzen – auch um die Stabilität und die kulturellen Grundlagen zu bewahren.
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