W er den jüngsten, achtseitigen Beschluß des CDU-Bundesvorstandes über „Die außen-politischen Interessen Deutschlands“ liest, wird sich des Eindrucks nicht erwehren können, daß hier nicht außenpolitische Profis, sondern Amateure am Werk waren, die sich deutlich an zum Teil überholte Vorstellungen klammern. Es ist, als hätten die CDU-Autoren (federführend: Ex-Parteichef Schäuble) Angst vor der eigenen Courage, wenn sie immer wieder gegen deutsche „Sonderwege“, gegen eine „national bestimmte“ deutsche Politik oder gegen „Achsenbildung“ zu Felde ziehen. Es fällt auf, daß viel von „Union“ (gemeint ist die EU, nicht die CDU) und Integration – aber niemals vom „Volk“ die Rede ist. Auch die Formel von den „deutschen Interessen“, welche in der klassischen Definition durch deutsche Außenpolitik gewahrt und gestärkt werden sollten, wirkt in diesem CDU-Papier seltsam verfremdet und verkehrt. Die CDU ist der Meinung, daß Deutschland seine Interessen am besten durch Unter- und Einordnung unter andere, nicht-deutsche Institutionen und Integrationen wahrnehmen sollte. Gelegentlich verheddert sich das CDU-Papier in offene Widersprüche. So wird in der Präambel zugestanden, daß Deutschland seit Ende des Kalten Krieges „neue Handlungsspielräume“ gewonnen habe. Aber bereits im ersten von zehn Abschnitten will man davon nichts mehr wissen: da wird nur noch von der „Illusion neuer deutscher Gestaltungsfreiheit“ gesprochen. Einen „deutschen Weg“ gehen zu wollen oder „neue Achsen zu schmieden“, führe in die Irre und „schade den fundamentalen Interessen unseres Landes“. Es ist verständlich, daß die große Oppositionspartei keine Gelegenheit versäumen will, um ihrer regierenden Konkurrenz vors Schienbein zu treten. Allerdings – wenn sie behauptet, die Bundesregierung habe die tiefe Krise im europäischen Einigungsprozeß und in der Nato „verursacht“ – dann fragt man sich, ob hier nicht Ursache und Folge miteinander verwechselt werden. Eines der Lieblingsvokabeln des CDU-Papiers ist das Wörtchen „muß“: „Der europäische Einigungsprozeß muß weiter vertieft werden. (…) Auch das erweiterte Europa muß wesentlicher Teil der atlantischen Partnerschaft bleiben.“ Oder: „Wer Unilateralismus vermeiden will, muß auch multilaterale Strukturen wirksam stärken…“ Schließlich: „Europa muß mittelfristig seine eigene Sicherheit stärken …“ Dies aber soll gemeinsam mit den USA zwecks Beteiligung an einer „besseren Weltordnung“ geschehen. Was aber ist, wenn das „Muß“ ein frommer Wunsch bleibt? Was ist, wenn sich der europäische Einigungsprozeß nicht weiter „vertieft“, weil er zunehmend auf Widersprüche stößt – und Amerika dazwischenfunkt, indem es den EU-Kandidaten Polen im Irak zur dritten Besatzungsmacht ernennt? Und was soll man tun, wenn die Amerikaner kein Interesse zeigen, die Europäer beim Bau der „besseren“ Welt heranzuziehen? Unilateralismus zu vermeiden, indem man den Multilateralismus stärkt – das ist eine Binsenweisheit. Doch wenn die stärkste Macht der Welt rücksichtslos Unilateralismus praktiziert – wie zuletzt im Fall Irak – bleiben den anderen bestenfalls fromme Wünsche. Diese sind im CDU-Dokument reichlich vorhanden, etwa: „Die gegenwärtige Osterweiterung der EU ist ein epochales Ereignis, mit dem die künstliche Trennung unseres Kontinents überwunden wird … Das gilt auch für die unumkehrbare Anbindung Rußlands an die europäischen und transatlantischen Strukturen…“ „Unumkehrbar“ und „Anbindung“ gehören auch zu den „Unwörtern“ im deutschen Sprachgebrauch. Wird Rußland sich einem solchen Zwang, bei dem die eigene Handlungs- und Entscheidungsfreiheit über Bord geht, wirklich beugen? Und besteht nicht die Möglichkeit (sogar Wahrscheinlichkeit), daß mit der Osterweiterung nicht die Einheit, sondern die Widersprüche sich vertiefen? Einen Vorgeschmack davon erleben wir jetzt bereits. Amerika bleibe „unser Freund und Partner“. Die Gemeinschaft mit den USA gründe sich auf einem weltweit „einzigartigen“ Fundament gemeinsamer Werte, vergleichbarer Zivilgesellschaften sowie dem gemeinsamen Streben nach „Durchsetzung“ von Demokratie, Menschenrechten, individueller Freiheit und Marktwirtschaft. Das ist nur eine unter vielen Verbeugungen der CDU vor den USA. Doch auch hier steckt der Teufel im Detail. So sind die USA eines der letzten zivilisierten Länder, in denen die Todesstrafe praktiziert wird. Gehört auch das zur „Wertegemeinschaft“? Geradezu verräterisch ist es, wenn die Christdemokraten die „Durchsetzung“ von Demokratie und Menschenrechten zum Ziel erheben. Das Wort „Durchsetzung“ impliziert Gewaltanwendung. Außerdem wäre zu fragen: Wer bestimmt darüber, was demokratisch und „menschenrechtskonform“ ist und was nicht? Oder will man auch hier blindlings den Vorgaben der USA folgen? Einst sagte Bismarck: „Wir sind für die Art, wie andere Länder regiert werden, Gott sei Dank, nicht verantwortlich…“ Wäre eine solche Zurückhaltung den deutschen Interessen nicht zuträglicher als die proklamierte Verbesserung einer Welt, die sich ohne Gewalt wohl nicht verbessern läßt? Wer das westeuropäisch-amerikanische Konzept der Menschenrechte in fremden Kulturen und Kontinenten – etwa China, dem arabisch-islamischen Raum, Afrika oder Lateinamerika durchsetzen möchte, kann das nur unter Mißachtung gewachsener Strukturen und Traditionen tun. Am Ende steht dann eine Nivellierung, die im Chaos enden kann. Interessant ist, wie die CDU das von ihr in früheren Jahren gepflegte Verhältnis zu Frankreich jetzt mit moralisch erhobenem Zeigefinger definiert. Sie (die deutsch-französiche Freundschaft) „dürfe nicht zu einer Ausgrenzung oder Geringschätzung anderer EU-Mitgliedstaaten führen“. Könnte man aber mit mehr Berechtigung nicht das Gegenteil sagen: daß nämlich Deutschland und Frankreich aus aktuellem Anlaß bis zur Grenze des Boykotts ausgegrenzt werden? Von einer deutsch-französischen Dominanz zu sprechen, bedeutet eine Verkennung der wirklichen Kräfteverhältnisse. „Es liegt seit jeher in unserem Interesse, nicht zwischen Washington, Paris, London oder Warschau wählen zu müssen“, postuliert das CDU-Papier. Aber erstens hat die CDU bereits gewählt: nämlich die Unterordnung unter Washington. Zweitens haben nicht wir, sondern die USA „Warschau gewählt“, indem sie Polen zur dritten Besatzungsmacht im Irak beförderten. Allein diese Maßnahme muß in der EU wie ein Sprengsatz wirken. Manches, was das neue CDU-Papier anbietet, ist schlicht ein alter Hut: beispielsweise die mehrheitliche Beschlußfassung in der EU-Außen- und Sicherheitspolitik. Das impliziert das Niederstimmen jener Staaten, die nicht die Mehrheitsmeinung teilen. Ist es nicht naiv zu glauben, diese Staaten würden ihre vitalen Interessen durch möglicherweise hauchdünne Mehrheiten überfahren lassen? „Die Fragen, die der neuen amerikanischen Sicherheitsstrategie zugrunde liegen, müssen auch von uns aufgenommen und beantwortet werden“ – fordert die CDU. Gewiß, aber diese neue US-Strategie läßt Präventivkriege zu und hat, zumindest implizit, sogar atomare Erstschläge zum Inhalt. Soll sich Deutschland wirklich an einer solchen Strategie beteiligen? Wenn schließlich die CDU sich von den „problematischen“ Inhalten staatlicher Souveränität, territorialer Integrität und vom völkerrechtlichen Interventionsverbot verabschiedet, so erinnert das nicht nur an die einstige „Breschnew-Doktrin“, sondern läßt die Frage aufkommen: Was bleibt dann noch übrig, außer Einheitsbeschwörungen, die gleichfalls gewissen Formeln des 1990 verblichenen Realsozialismus gleichen? In mancher Hinsicht versucht sich die CDU an der Quadratur des Kreises. Deutschland habe „aufgrund unserer Geschichte“ besondere Verantwortung gegenüber Israel. Aber gleich danach heißt es, „unsere Beziehungen zur islamischen Welt sind von besonderer Bedeutung“. Weiter wird das „traditionell gute Verhältnis zu arabischen Gesellschaften“ beschworen. Wie beides unter einen Hut zu bringen ist, steht allerdings nicht im CDU-Papier. Dafür werden aber die Deutschen gemahnt, sie dürften Uno und Weltsicherheitsrat „nicht durch Uneinigkeit schwächen“. Wer aber bestimmt darüber, was Einigkeit ist und von welchen Kriterien sie auszugehen hat? So bleibt insgesamt ein diffuser Eindruck zurück. Das Papier enthält viele Allgemeinplätze, wenig Substanz und zu große Bereitschaft, sich dem transatlantischen Bruder unterzuordnen. Das alles ist meilenweit von jenen Zeiten entfernt, da Adenauer und Strauß vormachten, wie Außenpolitik – unter damals weitaus schwierigeren Prämissen – zu führen ist.