Jacques Chiracs Wiederwahl hat Frankreichs politische Landschaft auf den Kopf gestellt. Der Linken, die Lionel Jospins Waterloo noch nicht verwunden hat, fehlen die Worte. So ist die Rechte plötzlich zum Favoriten der bevorstehenden Wahlen geworden, bei der 8.456 Bewerber um die 577 Sitze in der Nationalversammlung ringen. Bis zu den Präsidentschaftswahlen hatte die Linke die Illusion ihrer „Schönen Neuen Welt“ noch aufrechterhalten können. Damit ist es jetzt endgültig vorbei. Bei den Parlamentswahlen, die am 9. und 16. Juni ausgetragen werden, sieht sich die verwaiste Linke von Chiracs Manövrierfähigkeit in die Defensive gedrängt. Die politischen Koordinaten haben sich verschoben. Das Ausmaß dieser Veränderungen – und die Gründe für ihre Niederlage in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen – hat die Linke bislang noch nicht verstanden. Diese Gründe liegen in ihrem Bruch mit dem einfachen Volk, im Kollaps der Kommunistischen Partei (PCF) und in dem Trotz der Wähler, die die Nase voll hatten und den Front National (FN) aus Protest zu Frankreichs wichtigster Arbeiterpartei machten. Es gibt 2,2 Millionen (8,9 Prozent) Arbeitslose, in einigen Regionen beträgt die Jugendarbeitslosigkeit sogar bis zu fünfzig Prozent. Andererseits stehen über 25 Prozent der Franzosen im öffentlichen Dienst, auch für viele in der Privatwirtschaft gilt die 35-Stunden-Woche. Die Linke ist daher so verblendet und so von ihren eigenen Rezepten überzeugt, daß es ihr schwerfällt, sich die Arroganz abzugewöhnen, die ihr jahrzehntelang die Macht sicherte, und zu einer kohärenten Strategie zu finden. Zwar konnten die Sozialisten (PS) zu keiner Einigung mit Jean-Pierre Chevènements Republikanischem Pol (PR) kommen, der immerhin 408 Kandidaten aufstellt. Um so schneller schlossen sie Wahlabkommen mit den Grünen und der PCF. Dennoch will sich keine wirkliche Dynamik einstellen. Aller Mobilmachungshysterie zum Trotz scheint das Rückgrat der PS gebrochen. Politische Beobachter verschreiben ihr mittlerweile gar eine Oppositionskur. Die Reden, die die Sozialisten in letzter Zeit geschwungen haben, verfangen sich in offenkundigen Widersprüchen. Ihrem neuen Chef François Hollande fehlt die Kraft der Überzeugung, wenn er sich an dem altvertrauten Angriffsstil der Linken versucht. Sein Fernsehduell mit dem 28jährigen Trotzkisten Olivier Besancenot von der Revolutionären Kommunistischen Liga (LCR) legte davon ein beredtes öffentliches Zeugnis ab. Hollande mag sich noch so sehr über die Kriminalität, die Arbeitslosigkeit, die Umweltverschmutzung, den Populismus und die Globalisierung ereifern – selbst und gerade für linke Ohren klingen seine Worte falsch. Der Chefredakteur der linken Wochenzeitung Politis machte kein Hehl daraus: Es müßte ein Wunder geschehen, wenn die Linke die Wahl gewinnen soll. Der größte Widerspruch der Sozialisten zeigt sich in ihrer Haltung zur Kohabitation. Noch wenige Monate vor den Präsidentschaftswahlen hatte Jospins Kabinettschef Olivier Schrameck die politische „Zwangsehe“ zwischen Präsidenten und Premierminister schärfstens kritisiert. In seinem Buch „Matignon Rive Gauche“ bezeichnete er diese „Machtzerstückelung“ als Ursache allen Übels und „schlechteste aller Regierungsformen“. Mittlerweile legen sich die Sozialisten mächtig ins Zeug, Argumente zu finden, die eine neuerliche Kohabitation mit dem neogaullistischen Präsidenten rechtfertigen. Plötzlich beschwören sie die „Notwendigkeit“ eines linken Wahlsieges, um die Konzentration aller Gewalten in einer einzigen Hand zu vermeiden. Auch Hollande haut in diese Kerbe, wenn er das Gespenst einer „sozialen Regression“ herbeizitiert und warnt: „Die Rechte hätte völlig freie Hand, ihre Politik zu machen und unsere Errungengenschaften zu zerstören.“ Die Sozialisten erweisen sich nicht nur als politische Wendehälse – sie machen auch deutlich, wie unzureichend sie die Gründe ihrer Niederlage und die Botschaft der Protestwähler analysiert haben. Die Franzosen sehen in ihrem Verhalten nichts weiter als eine Demonstration des Willens zur Macht um jeden Preis. Nicht nur das: Umfrageergebnisse zeigen, daß sie der Rechten auch bezüglich der Kriminalitätsbekämpfung mehr zutrauen als der Linken. Chirac hat genug demagogisches Geschick, die Gunst der Stunde für sich auszunutzen. Seit seiner Wiederwahl hat er sich unablässig bemüht, als souveräner Staatschef aufzutreten und das schwache Bild in Vergessenheit geraten zu lassen, das er während seiner ersten Amtszeit in der Kohabitation mit Jospin bot. Auf keinen Fall will er sich weitere Vergleiche mit der „Königin von England“ gefallen lassen müssen. Zugleich setzte er alles daran, seinen Einfluß innerhalb der bürgerlichen Rechten (RPR, UDF, DL) zu verstärken. Die Ernennung des rechtsliberalen Jean-Pierre Raffarin (DL) zum Premierminister diente dazu, die brutale Unterdrückung oppositioneller Elemente zu übertünchen. Die Schaffung der von Chiracs RPR dominierten „Präsidentenpartei“ UMD (Union pour la majorité présidentielle), die nicht nur der im Mai mit 6,9 Prozent als Präsidentschaftskandidat gescheiterte UDF-Chef François Bayrou als „Einheitspartei“ bezeichnet hat, reiht sich nahtlos in dieses Bild ein: Chirac trachtet nicht nur nach einem rechten Sieg bei den Parlamentswahlen, sondern nach persönlicher Hegemonie. Auch die Vorrangstellung, die dem Problem der Inneren Sicherheit in diesem Wahlkampf eingeräumt wird, paßt dazu. Dem neuen „Sicherheitsminister“ Nicolas Sarkozy (RPR) geht es weniger um Resultate als um Effekte. Vor allem in der Pariser Region hat sich die Polizeipräsenz in den öffentlichen Verkehrsmitteln und auf der Straße vervielfacht. Sarkozys Auftrag lautet, die Franzosen während des Wahlkampfes in Sicherheit zu wiegen. Nebenbei soll er den FN seiner Hauptargumente berauben. Analysen der Präsidentschaftswahl haben gezeigt, daß die Stimmen der Protestwähler großenteils der mangelnden Inneren Sicherheit geschuldet waren. Zugleich hat sich erwiesen, wie weit das „lepenistische“ Gedankengut inzwischen im Volk verbreitet ist. Laut einer Umfrage, die das Meinungsforschungsinstitut SOFRES im Auftrag der Tageszeitung Le Monde und des Senders RTL durchführte, stimmen 40 Prozent der Franzosen den Positionen des FN in Fragen der Justiz und Inneren Sicherheit zu. Beachtliche 28 Prozent erklärten sich „insgesamt einverstanden“ mit den Ansichten, die Le Pen vertritt. Was tun, um Le Pens Einfluß einzudämmen? Die politische Klasse sucht verzweifelt nach Antworten auf diese Frage. Die Rechte hat Lösungen parat, wie man sieht. Die Linke zögert noch. Die bewährten Methoden der antifaschistischen Abschreckung genügen offensichtlich nicht mehr. Manche, unter ihnen der sozialistische Ex-Minister Jean-Luc Mélenchon, drängen auf ein Verbot des FN. Andere kündigen an, „auf den Boden zurückzukehren“ und „den sozialen Bewegungen zuzuhören“. Die einen überzeugen sowenig wie die anderen. Weder Hollande noch Ex-Minister Dominique Strauss-Kahn oder Ex-Premier Laurent Fabius haben das Profil, volksnahe Positionen glaubhaft zu vertreten. Dazu wären höchstens Trotzkisten wie Arlette Laguiller vom Arbeiterkampf (LO) in der Lage. Diese haben für die dem Liberalismus verhaftete „bourgeoise Linke“ aber nur Spott übrig. Währenddessen hat Le Pen allen Grund zum Jubeln. Sein FN schickt 290 Männer und 273 Frauen ins Rennen und ist so in fast allen Wahlkreisen vertreten. Prognosen sagen dem FN ein beeindruckendes Ergebnis voraus. Doch der Wählerwille wird durch das französische Wahlsystem weitgehend verfälscht. Es ist möglich, daß vierzig Prozent der Stimmen ausreichen, um achtzig Prozent der Mandate zu gewinnen. Im ersten Wahlgang ist nur gewählt, wer die absolute Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen bekommt. Die Stimmen der unterlegenen Kandidaten werden landesweit nicht berücksichtigt. Im zweiten Wahlgang reicht die einfache Mehrheit, um gewählt zu sein. Vor fünf Jahren war es Le Pen mit landesweit über 15 Prozent nur gelungen, in Toulon einen Kandidaten in der zweiten Runde durchzubringen – diesmal könnten es etwa im Elsaß oder Südfrankreich einige mehr sein. Gestützt auf das Resultat der zweiten Runde der Präsidentenwahl hofft Le Pen in mindestens 235 Wahlkreisen die Stimmen von über 12,5 Prozent der eingeschriebenen Wähler zu erlangen und damit in der Stichwahlrunde den Ausschlag zwischen links und rechts geben zu können. Vor fünf Jahren, als der FN 46 von 76 „Triangulaires“ (Dreieckskonstellationen) zugunsten der Linken ausgehen ließ, verhalf Le Pen so Jospins Linksbündnis zum Sieg. Nach einer vom L’Express aus den Präsidentschaftswahlergebnissen erstellten „Stimmensimulation“ könnte die neue Nationalversammlung 319 linke, 256 bürgerliche und zwei FN-Mitglieder zählen – fast genauso wie bisher. Am Abend des 16. Juni wird man eine erste Bilanz der Kosten ziehen können, die der FN dem Präsidenten verursacht.