Es gibt kaum eine geschichtliche Krise, die so oft beschrieben wurde wie der Untergang der Weimarer Republik. Seitdem das dreibändige Standardwerk „Die nationalsozialistische Machtergreifung“ von Karl Dietrich Bracher, Gerhard Schulz und Wolfgang Sauer schon in den 1960er Jahren den bis heute unerreichten Goldstandard für die Behandlung von Republikende und Machtergreifung definierte, erscheinen in regelmäßigen Abständen immer neue Konvolute über die Katastrophe von Weimar.
Nun hat Jens Bisky, Schriftsteller und Sohn des früheren PDS-Vorsitzenden Lothar Bisky, mit seinem Buch „Die Entscheidung. Deutschland 1929 bis 1934“ das Thema erneut aufgegriffen, um in beachtlicher Opulenz auf über 600 Seiten die Untergangsgeschichte der Weimarer Republik zu erzählen. Seine Darstellung beginnt mit dem Tod von Außenminister Gustav Stresemann im Oktober 1929 und endet mit dem Tod von Reichspräsident Hindenburg im August 1934. Was ist das Besondere an dem vorliegenden Buch?
Neue Quellen werden nicht vorgestellt, auch eine neue, umfassende These wird nicht entfaltet, was nicht gegen, sondern für den Autor spricht, weil er sich ganz auf die akribische Rekonstruktion der Geschehnisabläufe konzentriert und sich den Verlockungen von Globalerklärungen entzieht. Der Wert des Buches liegt wie bei den Schriften von Richard David Precht im Literaturästhetischen: nichts, was gesagt wird, ist neu, aber so, wie es gesagt wird, klingt es ungemein überzeugend.
NSDAP bot positive Zukunftsvision
Bisky läßt eine breit orchestrierte Palette zeitgenössischer Stimmen „aus dem Dunkel des gelebten Augenblicks“ (Ernst Bloch) so zu Wort kommen, daß seine chronologisch verfahrende Darstellung eine packende Dramatik erhält. Diese Dramatik bezieht ihren Spannungsbogen aus der Frage, ob der Untergang der Republik wirklich unvermeidlich gewesen war oder ob auf der abschüssigen Bahn, auf die die Demokratie geraten war, an irgendeinem Punkt eine Umkehr möglich gewesen wäre.
Wilhelm Cuno resigns as Chancellor of Germany after losing a vote of no confidence. Gustav Stresemann (pictured) accepts President Friedrich Ebert’s offer to form a new government. pic.twitter.com/g1HAcHqnbl
— 1925 Live (@100YearsAgoLive) August 12, 2023
Überraschenderweise tendiert der Autor dazu, diese Frage eher zu verneinen, weil die antirepublikanischen Strukturen schon lange vor 1929 eine derartige Festigkeit gewonnen hatten, daß sich die Entscheidungsspielräume der Republikaner von Jahr zu Jahr verengten. Noch zu Lebzeiten Stresemanns waren die Bomben protestierender Bauern in Schleswig-Holstein hochgegangen, noch zu Lebzeiten Stresemanns hatten die Neuverhandlung der Reparationszahlungen und der Young-Plan das Volk erbittert, und als die große Krise kam, stand ein übermächtiger Feind bereit. Diesen Feind unterschätzt zu haben, so Bisky, war vielleicht das Hauptversäumnis der republikanischen Entscheidungsträger. Denn, „auch wenn sie Verbrecher waren“, operierten die Nazis mit einer positiven Zukunftsvision, die vor allem die Jugend, mitriß.
Dieser Vision, als so irreführend sie sich im nachhinein auch erweisen sollte, hatten die Republikaner nichts entgegenzusetzen als Durchhalteparolen und Loblieder auf einen nicht funktionierenden Parlamentarismus. Außerdem, und das ist nach Bisky der zweite Grund für den Aufstieg des Nationalsozialismus, war die Hitler-Bewegung organisatorisch allen ihren politischen Konkurrenten haushoch überlegen. Mit der SA, einer intakten Bürgerkriegsarmee, besaßen sie einen direkten Zugriff auf die Straße, der ihr 1933 mühelos ermöglichte, ihre „faschistischen Kumpane“ von der DNVP auszumanövrieren.
Autor verweigert sich Weimarer Parallelisierung
Trotzdem richtet Bisky immer wieder seinen Fokus auf die Abwehrkräfte der Republik, namentlich auf die Sozialdemokratie, die in der Endphase der Republik von gleich drei Gegnern in die Enge getrieben wurde: von den Nationalsozialisten, den Kommunisten und den Deutschnationalen, die die Reichswehr im Rücken hatten. Gegen alle drei hatte die Sozialdemokratie keine Chance, was ihre klägliche Reaktion auf den preußischen Staatsstreich vom Juli 1932 erklärt. Die Gründe für diese Unterlegenheit reichen allerdings wieder weit hinter den Tod von Gustav Stresemann zurück bis in die Mitte der 1920er Jahre, als die Stalinisierung des deutschen Kommunismus, der Wahlsieg Hindenburgs gegen den Kandidaten der demokratischen Mitte sowie die Abwendung des protestantischen Bürgertums seit der Inflation die Weichen in verhängnisvoller Weise verstellten.
Es legt dem Autor hohe Ehre ein, daß sich Bisky einer naheliegenden, wohlfeilen Parallelisierung der Weimarer Untergangsgeschichte mit der Krise der gegenwärtigen Bundesrepublik versagt. Dergleichen Kurzschlußgleichsetzungen seien „frivol“, bemerkt er am Ende seines Buches, weil sie die völlig andersartigen konkreten Gegebenheiten mißachteten. Diesem Diktum ist unbedingt zuzustimmen. Wie unsinnig solche Pseudoparallelen sind, kann jeder ermessen, der zum Beispiel die Fakten über die NSDAP, die der Autor in dem vorliegenden Buch referiert, mit der faktischen, aktuellen AfD vergleicht.
Buch kann Therapeutikum sein
Wenn die AfD tatsächlich mit der NSDAP in der „Kampfzeit“ vergleichbar wäre, dann würde die AfD mit ihrer Jugend- und Studentenorganisation die Studentenvertretungen an den deutschen Universitäten beherrschen, dann stände ihr eine bewaffnete Bürgerkriegsarmee von Hunderttausenden Straßenkämpfern zur Verfügung und würde sie reihenweise ihre politischen Gegner zusammenschlagen, anstatt selbst von der Antifa drangsaliert zu werden. Dann hätte sie einen mächtigen Pressekonzern hinter sich und keine Vorsitzende mit einer gleichgeschlechtlichen Orientierung, sondern würde eben diese Orientierung öffentlich herabsetzen. Sie besäße keine jüdischen Arbeitsgemeinschaften, die sich für Interessen der Juden in Deutschland einsetzen, sondern sie würde Juden diskriminieren, wo immer es ihr möglich wäre.
Der zur Zeit grassierende AfD-NSDAP-Vergleich und andere groteske Parallelisierungen offenbaren ein Ausmaß an geschichtlicher Unbildung, das geradezu schwindlig macht. Dagegen erscheint das vorliegende Buch, wenn es nur viele Leser aus möglichst vielen unterschiedlichen politischen Lagern finden würde, wie ein dringend notwendiges Therapeutikum der historischen Urteilskraft.
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Jens Bisky: Die Entscheidung. Deutschland 1929 bis 1934. Rowohlt Verlag, Hamburg 2024, gebunden, 640 Seiten, 34 Euro.