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Buchrezension: Antideutsche Polonese aus Blankenese

Buchrezension: Antideutsche Polonese aus Blankenese

Buchrezension: Antideutsche Polonese aus Blankenese

Antideutsche Thesen verbreiten: Auf dem Foto befindet sich Jan Philipp Reemtsma während eines Vortrags zum Christoph Martin Wieland. (Themenbild)
Antideutsche Thesen verbreiten: Auf dem Foto befindet sich Jan Philipp Reemtsma während eines Vortrags zum Christoph Martin Wieland. (Themenbild)
Der Zigarettenerbe Jan Philipp Reemtsma: Wirbt auf eigentümliche Weise für Christoph Martin Wielands Werk. Foto: picture alliance/dpa | Martin Schutt
Buchrezension
 

Antideutsche Polonese aus Blankenese

Er war ein Kamerad von Goethe, Herder und Schiller, doch heute ist Christoph Martin Wieland aus der Erinnerung verschwunden. Jan Philipp Reemtsma wagt nun eine Renaissance – und mißbraucht ihn für eigene Zwecke. Von Wolfgang Müller.
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Im September 1772 trat Christoph Martin Wieland sein Amt als Prinzenerzieher in Weimar an. Er war der erste des Viergestirns der „Weimarer Klassik“, das der 6.000 Einwohner zählenden Residenzstadt des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach zum Ruhm eines Kulturzentrums von europäischem Rang verhelfen sollte. Der auf einen Ministerposten berufene Frankfurter Jurist Johann Wolfgang Goethe folgte ihm 1775, der ostpreußische Theologe Johann Gottfried Herder 1778, und als Nachzügler siedelte sich 1787 Wielands schwäbischer Landsmann Friedrich Schiller im Ilm-Athen an.

Ausgerechnet der Gründervater des Weimarer Musenhofs mußte jedoch im schaffensfrohen Alter erfahren, wie schnell Dichterlorbeeren welken. Hatte ihm sein generöser Leipziger Verleger Göschen 1794 noch eine Werkausgabe in 42 Bänden ermöglicht, die in vier Formaten und Ausstattungen erschien, „das größte Monument, das je einem Schriftsteller zu Lebzeiten errichtet worden ist“ (Klaus Manger, 1992), liefen ihm zur gleichen Zeit seine Nachbarn Goethe und Schiller öffentlich den Rang ab, während ihn die auf den Literaturmarkt drängenden Frühromantiker als „negativen Classiker“ (Friedrich Schlegel, 1798) schmähten.

Veraltet und vergessen?

Daß die Rezeptionsgeschichte des „deutschen Voltaire“ von da an eine Geschichte seines Vergessenwerdens war, beurkundet dann 1879 kein Geringerer als Friedrich Nietzsche: „Wieland hat besser als irgend jemand Deutsch geschrieben, aber seine Gedanken geben uns nichts mehr zu denken.“ In der wilhelminischen Literaturgeschichtsschreibung figuriert Wieland daher als „musealer Klassiker schlechthin“ (Herbert Jaumann, 1983), dessen verstaubte Bücher niemand mehr liest. Entsprechend regten der 200. und der 250. Geburtstag (1933, 1983) das literaturkritische Jubiläumsfeuilleton lediglich zu kläglichen Pflichtübungen an.

Aus solchen Tiefpunkten der Wirkungsgeschichte führte zwar die deutsch-deutsche Wieland-Forschung seit 1945 sukzessive heraus, doch das Desinteresse des lesenden Publikums ließ sich nicht vitalisieren. Von einer „Wieland-Renaissance“, von der einige Literaturhistoriker in den 1970ern raunten, war darum kein Hauch zu spüren. Obwohl es im verklärenden Rückblick so scheint, als habe Arno Schmidts Preisgesang im legendären Funk-Essay von 1957 („Wieland oder die Prosaformen“) den Vergessenen tatsächlich wieder ins bildungsbürgerliche Kollektivgedächtnis zurückgeholt. Ein Trugschluß, aber immerhin stimmt es, daß Schmidts Mine eine Spätzündung auslöste.


Reemtsma scheitert mit seinem Renaissanceversuch



Jan Philipp Reemtsma: Christoph Martin Wieland. Die Erfindung der modernen deutschen Literatur, C. H. Beck, München 2023, gebunden, 704 Seiten, Abbildungen, 38 Euro. Jetzt beim JF-Buchdienst bestellen.

Denn der Hamburger Zigarettenerbe und passionierte Schmidt-Adept Jan Philipp Reemtsma investiert seit den 1980er Jahren nicht unbeträchtliche Mittel, um für Wieland zu werben. Der Mäzen beteiligte sich dabei auch aktiv als Mitherausgeber mehrbändiger Editionen der literarischen und politischen Schriften Wielands, stieg mit seiner 1993 veröffentlichten Dissertation zu dessen „Großmosaik“, dem Briefroman „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen“ (1800/1801), selbst ins Deutungskartell ein und ist mittlerweile als Finanzier des Ausbaus von Gut Oßmannststedt, des Dichters zeitweiligem Tuskulum nahe Weimar, zur Gedenk- und Forschungsstätte, sowie als rühriger Mitherausgeber und Kommentator einer monumentalen „Historisch-Kritischen“, zum Preis eines Kleinwagens feilgebotenen Werkausgabe zum viele Fäden ziehenden Paten der elitären Wieland-Gemeinde avanciert.

Mit einer opulenten Biographie legt Reemtsma nun also die Summe seiner Anstrengungen um die Vergegenwärtigung des gründlich vergessenen Hausheiligen vor. 
Um es vorwegzunehmen: Der Verfasser hat sich nicht gebessert. Er ist nach wie vor der fliegenbeinzählende Langeweiler, als den ihn Peter Hacks, der Dramatiker und gelehrte Kenner der Goethe-Zeit, in seiner so ausführlichen wie vernichtenden Besprechung der Doktorarbeit zum „Aristipp“ einst geißelte. Mit endlosen Referaten und mehr als die Hälfte des Bandes füllenden Zitaten präsentiert sich hier ein analytisch nicht sonderlich ambitionierter Enthusiast, den selbst „bunte Harmlosigkeiten“ poetischer Rokoko-Tändeleien Wielands entzücken („zauberhaft“).

Um letztlich unbeabsichtigt zu bestätigen, was die Wieland im Kern sehr gewogene, weil das Œuvre des bürgerlichen Aufklärers als „kulturelles Erbe“ vereinnahmende DDR-Germanistik schon in den 1970ern nicht verschwieg: Der Verfasser zahlreicher dickleibiger Romane in Prosa und in Versen, die mit ihrer ausufernden Breite ermüden, habe keine „original dichterische Leistung“ vorzuweisen. 
Wielands Hauptschwäche sei sein Unvermögen, andere als „rein zeitbedingte Probleme“ aufzugreifen, so daß deren literarische Widerspiegelungen mit der spätabsolutistischen Epoche versanken, der sie entstammten.

Antike als lästige Inspirationsquelle

Als weitere Rezeptionsbremse habe die tiefe Verwurzelung des Autors in der antiken Bildungswelt gewirkt. Der humanistisch erzogene Pastorensohn wuchs damit auf, bewegte sich darin wie ein Fisch im Wasser, beherrschte mit acht Jahren das Lateinische vollkommen, hatte als Sechzehnjähriger alle lateinischen Schriftsteller gelesen und sich Griechisch und Hebräisch virtuos angeeignet. Die Antike konnte er darum als unerschöpfliches Reservoir für Themen, Ideen, Stoffe seiner Dichtungen nutzen.

Die zwischen Adel und Bürgertum ausgefochtenen Konflikte seiner Gegenwart, den Kampf gegen Despotie, Moralheuchelei, Pfaffen- und Philistertum, inszeniert der auf Gesellschaftveränderung durch Erziehung zur Vernunft setzende Wieland mit Vorliebe perspektiven- und anspielungsreich im antiken Gewand. So daß humanistisch weniger versierte Leser an der Entschlüsselung seiner kritischen Botschaften oft scheitern. Zusätzlichen Widerstand baut Wielands von antiken Skeptikern, französischen Freigeistern und Materialisten geprägte Weltsicht auf.

Wieland warnt vor Utopien

Trotzdem bleiben seine nach ästhetischen Maßstäben auch von Wohlmeinenden als antiquiert beurteilten poetischen Werke, allen voran die Romane „Der Sieg der Natur über die Schwärmerey oder die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva“ (1764), „Geschichte des Agathon“ (1766/67), „Der goldene Spiegel“ (1772), „Die Abderiten“ (1781) und der „Aristipp“, nicht nur historisch wertvolle Quellen für die Geistes- und Mentalitätsgeschichte des deutschen Bürgertums im 18. Jahrhundert, weil deren eminent politischer Grundzug auch heute noch ein beachtliches Aufklärungspotential freisetzen würde. Wie etwa die nach dem Muster von Cervantes’ Don Quichote geschaffene Figur des „Don Sylvio“.

Rüstete sich jener nach exzessiver Lektüre von Ritter-Romanen zum Kampf gegen Windmühlen, verhedderte sich Don Sylvio in der Fantasy-Welt der Feen-Märchen. Es braucht nicht viel Witz, um die Brücke vom Typus solcher realitätsfremden Schwärmer zu dessen gemeingefährlichen Varianten zu schlagen, dem religiösen oder politischen Fanatiker, der die Menschheit  im Namen des Propheten von Ungläubigen blutig säubern will, das „soziale Experiment“ des Bevölkerungsaustausches in Europa plant oder die Erde ökodiktatorisch vor einer Klimakatastrophe bewahren möchte.

Ähnlich politisch brisant und aktuell sind die „Abderiten“, das Epos über die Bewohner Abderas, des griechischen Schilda, deren politische Unreife an der Aufgabe scheitert, sich selbst demokratisch zu regieren. Schopenhauers pessimistische Anthropologie nehmen die Dialoge im „Agathon“ und im „Aristipp“ vorweg, die an den „Fortschrittspöbel“ das Credo von der entwicklungslosen Menschheit und der nie zu brechenden Herrschaft der Dummheit adressieren, die dafür sorge, daß die Weltgeschichte „ein Karussell ewig gleicher Katzbalgereien bleibt“.

Für antideutsche Ansichten instrumentalisiert

Auf solche, für die Ambivalenz des Aufklärers bezeichnenden politisch-weltanschaulichen Implikationen der Prosa Wielands geht Reemtsmas Biographie nur ähnlich beiläufig ein wie auf sozioökonomische Determinanten seiner Produktion, was schon dem Marxisten Peter Hacks sauer aufstieß. Stattdessen reduziert der Verfasser den politischen Wieland einmal mehr auf seine Funktion als Stammvater des deutschfeindlichen Antifa-Milieus, als dessen prominenter Sprecher sich Reemtsma kurz vor dem Mauerfall profilierte.

Aufgewachsen in der Freien Reichsstadt Biberach, einem von über 300 „souveränen“ Kleinstaaten unter dem Dach des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, der Wieland vor seinem Wechsel nach Weimar als Verwaltungsbeamter diente, hatte er dort Deutschland im Normalzustand des fremdbestimmten Flickenteppichs zu akzeptieren gelernt. Für Reemtsma, der auf die Frage, ob er Deutschland liebe, zu antworten pflegte: „Halten Sie mich für nekrophil?“, und der wie Günter Grass die deutsche Teilung als Strafe für Auschwitz verewigen wollte, empfahl sich dieser kosmopolitische Gegner des deutschen Nationalstaats und blinde Napoleon-Verehrer als idealer Eideshelfer gegen die Wiedervereinigung.

Der Dichter, dem es keine Pflicht war, „ein teutscher Patriot zu sein“, steht darum konsequent im Mittelpunkt des einzigen, dem politischen Schriftsteller und der Französischen Revolution gewidmeten Kapitel dieser Biographie. Das dokumentiert, wie der an der Spitze der antideutschen Polonäse aus Blankenese tanzende Vergangenheitsbewältiger Reemtsma wiederum den Mangel an politischer Urteilskraft mit Moral kompensiert, aus der Geschichte die falschen, den Haß auf das Eigene schürenden Lehren zieht und damit ein Leiden an jenem fatalen deutsch-bürgerlichen „Syndrom des Unpolitischen“ (Wolfgang Abendroth, 1966) offenbart, das seine Göring und Himmler fördernde Familie zur mittelbaren Beihilfe am Völkermord verführte.

JF 3/24

Der Zigarettenerbe Jan Philipp Reemtsma: Wirbt auf eigentümliche Weise für Christoph Martin Wielands Werk. Foto: picture alliance/dpa | Martin Schutt
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