Die scharfen Verrisse, die in den Leitmedien über Uwe Tellkamps neuen Roman „Der Schlaf in den Uhren“ noch vor Ablauf der Sperrfrist hereinbrachen, konnten in der Sache kaum treffend sein, weil niemand so rasch einen kompliziert gebauten 900-Seiten-Roman lesen, erfassen, analysieren und aus der nötigen Distanz beurteilen kann. Auf eine perfide Weise waren sie dennoch zielgenau: Sie meinten die Person des Autors, um die Delegitimierung der öffentlichen Figur, die Tellkamp als Bestsellerautor nun einmal ist. Denn wozu sonst der Aufwand? Einen Roman, der so schlecht ist, wie er hier gemacht wurde, kann man einfacher erledigen, indem man ihn durch Nichtbeachtung in der Flut der Neuveröffentlichungen untergehen läßt.
Fast keiner der Kritiker mochte darauf verzichten, in inkriminierender Absicht eine Aussage Tellkamps zu zitieren, die in einem Streitgespräch mit seinem Kollegen Durs Grünbein im März 2018 in Dresden gefallen war: 95 Prozent der Asylanten seien Wirtschaftschaftsflüchtlinge, die Einlaß ins deutsche Sozialsystem begehrten. Was ist daran falsch? Die allermeisten Asylbewerber, die nach Deutschland kommen, reisen über sichere Drittstaaten ein. Aus ihrer Sicht ist die Weiterreise absolut verständlich, denn kein Drittstaat ermöglicht ihnen eine auch nur annähernd so großzügige Versorgung.
Das Muster der Ausgrenzung wiederholt sich
Was für Deutschland problematisch ist, denn es besteht, wie der Rolf-Peter Sieferle betonte, ein Konnex zwischen dem National- und dem Sozialstaat. Seine Internationalisierung führt logischerweise zu seiner Zerstörung. Nur ist dieser Zusammenhang hierzulande nicht diskutabel. Das Verhältnis zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethik ist dermaßen aus dem Gleichgewicht geraten, daß heute ein regelrechter Gesinnungsfanatismus alle Bereiche des öffentlichen Lebens transzendiert.
Deshalb ist es abwegig, die von Tellkamp festgestellte Verengung des Meinungs- und Gesinnungskorridors zu bestreiten. Im 1932 entstandenen Gedicht „Lob des Lernens“ hatte Bertolt Brecht den arbeitenden Mann, die arbeitende Frau aufgefordert: „Prüfe die Rechnung / Du mußt sie bezahlen. / Lege den Finger auf jeden Posten / Frage: Wie kommt er hierher?“ Spätestens mit der Grenzöffnung 2015 nahm die Frage, was der Spaß, den die „Willkommenskultur“ einer euphorisierten Zivilgesellschaft bereitet, unterm Strich kostet und wer dafür aufkommt, eine existentielle Dimension an. Flugs drohte ein Gewerkschaftsboß den mit wertschöpfender Tätigkeit befaßten, steuerzahlenden Arbeitnehmern, bloß keine falschen Diskussionen anzufangen: „Wer hetzt, der fliegt!“ Das Muster wiederholt sich im Umgang mit Kritikern der Klima-Kampagne und der Corona-Politik.
Höhnisch heißt es, man müsse „Gegenwind“ aushalten, nur besteht der so gut wie nie aus dem besseren Argument, sondern aus Schikanen, welche die Person des Andersdenkenden zum Kriegsschauplatz machen und ihn in seiner beruflichen, sozialen, psychischen, auch physischen Existenz treffen und mitunter sogar vernichten.
Wieviel Raum bleibt noch?
Im Dresdner Streitgespräch wurde Tellkamp vom Konterpart Grünbein aufgefordert, er möchte ihm doch die „direkte Korrelation“ zwischen Rentenminderung und Flüchtlingskosten nachweisen. Nun ist eine „Korrelation“ per definitionem niemals „direkt“, Grünbein meinte „Kausalität“. Davon abgesehen, schien ihm die Binsenweisheit, daß jeder freigiebig verteilte Euro erst einmal erarbeitet und nur einmal ausgegeben werden kann, gänzlich fremd zu sein. Trotz – oder wegen? – solcher kognitiven Schwächeanfälle figuriert er in der verbreiteten Schlußbilanz als der Gute, Vorteilhafte, Überlegene, während Tellkamp als Bösewicht seitdem unter Bewährung steht.
Was können Kunst und Literatur ausrichten, wenn im öffentlichen Raum die faktenbasierte Diskussion abgeschafft und an ihre Stelle die Kampagne gegen Abweichler getreten ist? Kunst und insbesondere die Literatur sind eine spezielle Form der Kommunikation, die empirische, normative, psychologische, ästhetische und viele andere Bedeutungsebenen zusammenbindet. Mehrschichtig- und Mehrdeutigkeiten lassen assoziative Zwischenräume und Refugien der Sammlung und Reflexion entstehen. Wieviel Raum aber bleibt noch, wenn die Luft im Land stickig wird?
Jenseits des Sagbaren
In der Fernseh-Dokumentation „Der Fall Tellkamp – Streit um Meinungsfreiheit“ kommt die Schriftstellerin Monika Maron zu Wort. 2020 hatte ihr der Fischer-Verlag nach 40jähriger Zusammenarbeit wegen politischer Unverträglichkeit den Stuhl vor die Tür gesetzt. Maron berichtet, daß bereits der 2018 erschienene Roman „Munin“ für Unmut im Haus gesorgt hatte. Man nahm Anstoß an einer Szene, in der die Hauptfigur sich bei der Betrachtung eines von dunkelhaarigen – muslimischen – Kindern frequentierten Spielplatzes sich fragt, wie das Land eine Generation später wohl beschaffen sein würde. Maron meinte, hier würde die Figuren- fälschlich als Autorenrede identifiziert, doch offenbar läge die Frage an sich bereits jenseits des Sagbaren.
Die Frage liegt natürliche nahe und wird privat diskutiert, sei es aus konkreter Betroffenheit, sei es aus den geistig-kulturellen Zusammenhängen heraus, in denen man lebt und denkt. Sie öffentlich aufzuwerfen, ist riskant. Man muß mit Rassismusvorwürfen, eventuell mit Anzeigen wegen Volksverhetzung und sogar Hausdurchsuchungen rechnen. Nur in der Literatur, in der Mehrdeutigkeit eines ästhetischen Gebildes, kann sie noch ebenso thematisiert werden – ein Zustand, der an die späte DDR erinnert, wo die Literatur einen gewissen Freiraum bot. Nur verläuft die Entwicklung heute umgekehrt. Während die DDR-Kulturpolitik seit den 1970er Jahren eine allmähliche Ausweitung des Meinungskorridors gestattete, verengt er sich heute analog zum wachsenden Anpassungsdruck, den Politik und Medien ausüben. Realitätspartikel wie Marons Spielplatzszene werden aus ihrem ästhetischen Kontext herausgelöst und als gesellschaftspolitischer Regelverstoß skandalisiert.
Das sich selbst verstehende Tabu
Monika Maron ist eine prominente Autorin und hat nach ihrem Rauswurf sofort eine gleichwertige Alternative gefunden. Für weniger etablierte Schriftsteller ist die Situation schwieriger, auf sie wirkt der Konformitätszwang ungleich stärker. Darin liegen mindestens zwei Gefahren: Erstens die einer affirmativen Literatur, die „im warmen Strom der applaudierten Meinungen“ (U. Tellkamp) schwimmt, zweitens die umgekehrte Möglichkeit, daß der Autor zum politischen Aktivsten und die Literatur zum Transportmittel oppositioneller Konterbande wird, und zwar unter Verlust des ästhetischen Mehrwerts. Eben darauf zielte der Vorwurf der „Gesinnungsästhetik“ (Ulrich Greiner) und der moralischen und politischen Überfrachtung in den Nachriegsliteraturen beider deutscher Staaten ab, der 1990 im deutsch-deutschen Literaturstreit zu recht erhoben wurde.
Ein Beispiel für die literarische Affirmierung des politisch-medialen Komplexes bietet – auf eine relativ raffinierte Weise – Ingo Schulzes Roman „Die rechtschaffenen Mörder“. Schulze tritt in der Fernseh-Dokumentation als ruhig-gelassener Gegenpol zum emotional erregten Tellkamp in Erscheinung. Er fühlt sich durch keinen Meinungskorridor beengt; die von der Dresdner Buchhändlerin Susanne Dagen initiierte „Charta 2017“, in der vor einer „Gesinnungsdiktatur“ gewarnt wird und zu deren Erstunterzeichnern Tellkamp gehört, hält er für verstiegen und anmaßend. Den einst engen Kontakt zu Dagen hat er abgebrochen, seitdem sie mit dem Antaios-Verlag, also mit den „Rechten“, kooperiert. Was an den „Rechten“ so verwerflich ist, erklärt er nicht, und er wird auch nicht danach gefragt. Es handelt sich um ein gesellschaftliches Tabu, da sich von selbst versteht.
Der Dichter im „Kampf gegen rechts“
Tatsächlich? Oder ist die Souveränität, die Schulze vorführt, nicht eher Ausdruck von Beschränktheit? In dem Punkt jedenfalls erweitst er sich als ein Gefangener: Gefangen in einem „Sprachregime“, das „(a)rchaische Formen der Zu- und Einschreibung (…) mit algorithmischer Präzision vollstreckt“ und die „moralische Kohärenz“ über „logisch-diskursive Standards“ (Michael Esders) stellt.
Genauso verfährt er im Roman. Er zeige – so die allgemeine Lesart, hier wiedergegeben in den Worten der taz –, „wie ein Büchermensch zum rechten Täter werden kann“. Der Dresdner Buchantiquar Norbert Paulini gerät nach 1989 unter die Räder der System-Transformation, er sieht sein Leben entwertet und wird – es ist die hohe Zeit von Pegida – zum Fremdenfeind. Die Raffinesse des Romans besteht darin, daß Schulze die Tonlagen und Perspektiven wechselt und sogar Paulinis Ressentiments ohne denunziatorische Beimengungen benennt: Die Arroganz der zugezogenen „Wessis“, die Scheinliberalität des Systems, die Herrschaft des Geldes, selbst das Privileg des angepaßten Schriftstellers wird erwähnt.
Aber das alles sind nur Auslöser und Vorwände. Paulinis Demokratieverachtung ist älteren Datums, sie kommt aus seiner eingewurzelten Neigung „zum Herrschaftswahn, zur Überhebung, zum Blick von oben herab“ – was durchaus als Seitenhieb auf den Verfasser des „Turms“ verstanden werden kann. Der stumme Hochmut des Vaters wird Paulinis Sohn Julian zur Tat, von Schulze kurz und knapp charakterisiert durch ein Totenkopf-T-Shirt, einen Wehrmachtsstahlhelm und den 20. April. Auf diesen Klischees und Accessoires, die Martin Walser als „Kostümfaschismus“ verspottete, baut Schulze eine moralische (Schein)Kohärenz auf: Der Dichter im „Kampf gegen rechts“.
Sentimentaler Stuß
Auf schlichterem Niveau bewegte sich Jenny Erpenbeck in ihrem 2015 passend zu Merkels Grenzöffnung erschienenen Roman „Gehen, ging, gegangen“, der verschiedentlich als „Roman der Stunde“ gepriesen wurde. Hauptfigur ist ein emeritierter, verwitweter und kinderloser Professor, der neuen Lebenssinn in tätiger Hilfe für afrikanische Flüchtlinge findet, die in Berlin gestrandet sind. Der Experte für alte Sprachen gibt ihnen in seinen Gedanken Namen wie Apollo, Tristan oder Olympier. Um ihre Abschiebung zu verhindern, sorgen er und seine Freunde dafür, daß ihre Häuser, Wohnungen und Gartenhäuschen offiziell als Flüchtlingsunterkünfte anerkannt werden.
So finden immerhin 147 von 476 Männern einen Platz zum Schlafen. Vor 25 Jahren konnte Harald Schmidt sich in seiner Show über solchen Verbrüderungskitsch noch lustig machen, mit Sprüchen wie: „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann stinkt die Straßenbahn heute noch nach Knoblauch.“ Solchen giftigen Spott muß Frau Erpenbeck nicht mehr befürchten, wenn sie schreibt: „Nur wenn sie (die Flüchtlinge – Th.H.) Deutschland jetzt überlebten, hatte Hitler den Krieg wirklich verloren.“ Logisch begründen läßt der Satz sich nicht. Er läßt sich auch nicht widerlegen, denn er ist sentimentaler Stuß. Ein Stuß freilich, in dem die zivilreligiöse Metaphysik der Bundesrepublik in ihrer ganzen Unbedarftheit ausgedrückt und beschlossen ist. Es ist eine Metaphysik von der unvergänglichen NS-Schuld. Am Ende ist die Buchpreis-Jury davor zurückgeschreckt, den Roman zum Buch des Jahres zu küren, aber immerhin erhielt seine Verfasserin das Bundesverdienstkreuz. Und die New York Times und The New Yorker verfaßten ellenlange Elogen zur englischen Übersetzung, hoben ihn auf dieselbe Ebene wie den Geniewurf „Schande“ des südafrikanischen Nobelpreisträgers J.M. Coetzee („Was die Stunde schlägt“, JF 23/08) und priesen ihn als dessen optimistisches Gegenstück. Es triumphierte das Entzücken über die gelungene Reeducation der Deutschen über alle literarischen Maßstäbe.
Tellkamp beklagt in der Dokumentation die Hegemonie der Westdiskurse. Bis zu einem gewissen Punkt hat er recht. Andererseits gibt es zahllose „Wessis“, die von diesen Redeweisen genauso enerviert sind, während Erpenbeck, Grünbein und Schulze, die als Fettaugen auf der Meinungssuppe schwimmen, gebürtige „Ossis“ sind. In der Hauptsache handelt es sich um keinen Ost-West-Konflikt mehr, sondern um die Auswirkungen der deutschen Schuldmetaphysik. In sie eingegangen sind die Wirklichkeitsverluste, Fehlwahrnehmungen und Fremdkonditionierungen, die beide deutsche Staaten unter der Ägide ihrer jeweiligen antifaschistischen Vormächte erfahren und übernommen haben.