Es ist soweit – wir haben’s geschafft! Nach 35 Jahren und 1.758 Folgen haben wir die „Lindenstraße“ überstanden. Im vergangenen Dezember war der letzte Drehtag, seitdem ist strengstens geheim, wie die finale Folge am 29. März endet. Doch egal, ob die Kulissen einstürzten, das Restaurant Akropolis behördlich geschlossen wird oder Hans Wilhelm Geißendörfer die Ausstrahlung persönlich abpfeift: Mit Deutschlands Seifenoper Nr. 1 endet ein Fernseh-Zeitalter. Anlaß für einen Rückblick …
1985 gab es noch zwei deutsche Staaten, der Bundeskanzler hieß Helmut Kohl und der bundesrepublikanische Wohlstand war auf dem Höhepunkt. Da startete die ARD eine Serie, die das Leben von Menschen wie Du und ich zeigte; ihren Alltag, ihre Sorgen, ihre kleines Glück. Erdacht hatte sie Geißendörfer, der Mann mit der Wollmütze. Einst mit Wim Wenders und Rainer Werner Fassbinder Gründer des Filmverlages der Autoren, typischer 68er und Urgestein des Kölner Medienklüngels. Vom Grimme-Preis bis zum Bundesverdienstkreuz sollte ihm seine Schöpfung noch viel Ruhm einbringen.
Die Fernsehkritiker zerrissen die teils dilettantisch gespielte und schlecht ausgeleuchtete Produktion, doch das TV-Publikum liebte sie. Millionen schlossen die grantige Haumeisterin Else Kling, den griechischen Gastronom Vasily Sarikakis aber vor allem die betüdelnde Helga besser bekannt als „Mutter“ Beimer ins Herz. Selbst die Band Die Ärzte widmeten der Serie einen Huldigungssong.
Aktuelle Gesellschaftskonflikte nervten mit der Zeit
Immer wieder sonntags versammelte sich die TV-Nation um Punkt 18.40 Uhr (später 18.50) zu der dramatischen Streicher-Melodie vor der Glotze und empörte sich über die Seitensprünge von Hans „Hansemann“ Beimer und litt mit dem vom Schicksal hart geprüften Doktor Ludwig Dressler. Marie-Luise Marjan verkörperte die „Mutti der Nation“ so authentisch, daß sie selbst immer mehr eine Symbiose mit ihrer Serienrolle einging.
Von Anfang an bezog die Serienhandlung aktuelle Gesellschaftskonflikte mit ein. Das schwule Pärchen, der spielsüchtige Opa, der alkoholkranke Doktor – die Lindenstraßenbewohner waren keine Glamour-Stars und nicht davor gefeit, ins Abseits zu geraten. Das machte sie so menschlich und stärkte die Zuschauerbindung. Doch mit der Zeit nervte es auch. Die Projektion tagespolitischer Themen ins Drehbuch wurde immer plakativer und aufdringlicher. Missionierungsgehabe und linker Stammtischmief überlagerten oft den Unterhaltungsspaß. Typisch für Geißendörfers Generation, denen alles Private politisch ist.
Ende der Neunziger wurde es bedeutend ruhiger um die Serie. Von Rekordquoten um die 15 Millionen Zuschauer stürzte das Interesse auf zuletzt unter zwei Millionen. War der erste Kuß der beiden Serien-Schwulen noch ein Aufreger, juckten spätere, geradezu verzweifelte Tabubrüche keine Sau mehr. Auch die Zuschauerproteste gegen die Absetzung blieben sehr überschaubar.
„Auf Wiedersehen“
Daß die Sendeanstalt das einst stolze Flaggschiff nun abwrackt, nimmt Geißendörfer persönlich. Gegenüber der Presse schwadroniert er, es sei „eine Beleidigung“, den Sendeplatz der Sportschau zuzuschieben. Man möchte ihm zuraunen: Keine Sorge, alter Mann – selbst der Fußball ist heute politisch.
Manche Mitglieder des Ensembles sind nun plötzlich arbeitslos und schwer vermittelbar, sie können halt nur Lindenstraße. Einige Veteranen wie Andrea Spatzek, die seit Folge Eins Gabi Zenker war, sind so geschockt, daß sie öffentlich über einen Lindenstraße-Kinofilm phantasieren. Verständlich, daß das Loslassen schwerfällt. Wie gesagt, die Akteure waren einem menschlich nahe.
Einen kleinen Spoiler können wir uns nicht verkneifen: In der letzten Folge droht der Verkauf des Hotels in der Lindenstraße zu platzen, da Wolf auf der Baustelle in den Tod stürzt und Anna unter Mordverdacht gerät. Mutter Beimer wird 80 und hat alle zur Feier ins Akropolis eingeladen. „Auf Wiedersehen“ hat zwar dreieinhalb Minuten Überlänge, aber der Titel führt in die Irre: Ein Wiedersehen wird es nicht geben. Die 150 Meter lange Kulissenstraße in Köln-Bocklemünd wird zur Geistermeile.