Viele Kulturhistoriker sagen, wir kriegen ein neues Biedermeier. Andere sagen, wir haben es schon. Immer mehr aufgeweckte Zeitgenossen zögen sich ins Private zurück, weil die sogenannte Öffentlichkeit nur noch langweile, bis oben hin mit Phrasen und Vorschriften vollgestellt sei. Dort aber, im Privaten, erneuere sich eine freie und wundersame, fast vergessene Lebenskultur, eine "neue Bürgerlichkeit", wie man auch sagt. Genau das sei Ausdruck von "Biedermeier".
Das Jahr 2008 bietet manchen Anlaß, sich über die Konturen des ersten, des Original-Biedermeier im neunzehnten Jahrhundert (etwa zwischen 1815 und 1845) genaueren Aufschluß zu verschaffen. Zwei seiner größten Repräsentanten liefern heuer "runde" Erinnerungsdaten: Vor 250 Jahren wurde Carl Friedrich Zelter geboren, der Komponist und Erfinder der legendären "Liedertafeln"; vor 200 Jahren Carl Spitzweg, der Maler berühmtester Zeitgeistbilder, des "Armen Poeten", des "Kaktusfreunds". Zelter und Spitzweg können geradezu als Torwächter und Erzengel des Biedermeier gelten. Die Epoche ist voll in ihnen enthalten.
Es war eine Epoche tiefer Erschöpfungen und Enttäuschungen, aber auch des Kräftesammelns und des Durchatmens. Gewaltigste Ereignisse waren vorausgegangen, der Untergang des Heiligen Römischen Reiches unter den Schlägen Napoleons, die Befreiungskriege mit den bis dato größten Schlachten der Weltgeschichte, der Versuch einer Wiederherstellung des alten, vorrevolutionären Europa durch Wiener Kongreß und Restauration. Nun wollte man erst einmal innehalten und die verbliebenen Bestände sichern. Für Großmäuler kamen schlechte Zeiten.
Draußen im Öffentlichen regierten Zensur und Meinungsschnüffelei. Einige Burschenschafter, Turnväter und Linkshegelianer begehrten auf und verschwanden in Festungshaft bzw. wanderten nach Amerika aus. Doch das Gros der Geistesarbeiter paßte sich an, hielt die Klappe, baute indessen das eigene Heim und die engere Heimat zu wohlabgesicherten Burgen aus, in denen vielerlei erprobt, hin und her gewendet und zukunftsfähig gemacht werden konnte.
Biedermeier" – das um 1830 in den Fliegenden Blättern in München mit spöttischem Unterton kreierte Epochenwort, kam genau richtig und wurde sofort allgemein akzeptiert. Ja, das wollte man sein: einerseits "bieder", also anständig, respektabel, auch staatsloyal, andererseits ein "Meier", ein "Major", selbständiger Verwalter seiner eigenen Geschäfte, in die niemand unzuständig dreinzureden hatte. Bescheiden nach außen, reich nach innen, mit kühnen Ausfaltungen.
In der Architektur hielt man sich an den klassischen Kanon, ohne ihn nach irgendeiner Richtung hin zu forcieren, was zu ganz prächtigen, bezaubernden Aspekten führte; man betrachte nur das von Joseph Kornhäusel nach dem großen Brand von 1842 neu errichtete Wohnviertel in Baden bei Wien! Auch in der Inneneinrichtung blieb man maßvoll und elegant-bescheiden, stattete jedoch die früher eher der Repräsentation dienenden Formen mit vielen Accessoires der Behaglichkeit und des praktischen Sinns aus, was ebenfalls herzerfrischende Resultate zeitigte. Danhauser und Thonet hießen die Helden der neuen Wohnkultur.
Parallel zum Mobiliar differenzierte und verbehaglichte sich das bürgerliche Gemüt, wovon nicht zuletzt die Bilder Spitzwegs Zeugnis geben. Es wimmelt dort von allen möglichen Originalen und Käuzen, notorischen Bücherwürmern, Kaktusliebhabern, Schmetterlingsjägern, Privatgelehrten, ewigen Hochzeitern, freilich auch von eingeschlafenen Nachtwächtern und aufgeblasenen Zöllnern, denen man seinen Paß zeigen muß. Die Grenzen und Demütigungen angestrengter Innerlichkeit treten ans Licht.
Faktisch nur ein einziger Lebensbereich blieb von Spießigkeit und Kleinmut gänzlich verschont: die Musik. Das Biedermeier war die Wiege des deutschen Liedes, und diesem gelang es in einzigartiger Weise, Volkskultur und Elitekultur miteinander zu vereinen und in gloriose Höhen zu führen, wofür Namen wie Robert Schumann, Franz Schubert und Carl Loewe stehen. Den Boden dafür aber bereitete Carl Friedrich Zelter, Goethe-Freund und Leiter der Berliner Singakademie, der am 24. Januar 1809 die erste deutsche "Liedertafel" ins Berliner Vereinsregister eintragen ließ, "die Zeltersche Ur-Tafel", wie sie fortan zur Abgrenzung von den anderen genannt wurde.
Denn die Idee fiel sofort auf fruchtbaren Boden, in kürzester Zeit formierten sich weitere "Tafeln" in allen Teilen Deutschlands, doch auch in Amerika, Argentinien und anderswo. Der Anspruch war überall hochgespannt, Zelter dachte bei der Gründung an nichts geringeres als an König Artus‘ Tafelrunde, zu der sich in Beruf und Stellung verschiedene, in idealer Gesinnung gleichwohl vereinte Sangesfreunde zusammenfinden sollten, um Gott im Chor zu loben, das Leben zu preisen und die freie Natur zu ehren und zu erkunden.
Übrigens war die Liedertafel nicht die einzige musikalische Errungenschaft des Biedermeier, auch der aus dem populären "Ländler" entwickelte Wiener Walzer gehört im Grunde dazu und überhaupt die Popularisierung von Kunstmusik sowie die Blüte der "Hausmusik" hinter biedermeierlichen Fassaden. Im Vorfeld der revolutionären Unruhen von 1848 verblich das Biedermeier dann allmählich. Man begann sich wieder mehr für die öffentlichen Dinge zu interessieren. Der Ton wurde wieder gröber. Aber die Liedertafel, bald "Männerchor" und "Gemischter Chor" genannt, hat die Zeiten halbwegs überdauert.
Ob es das neue Biedermeier, das jetzt angeblich in Form einer "neuen Bürgerlichkeit" auf uns zukommt, je zu ähnlich dauerhaften Leistungen wie Thonet-Möbeln, Wiener Walzer und freiem Männerchor bringen wird? Die Aussichten stehen nicht sonderlich gut. Auf Dauer ist heute nichts mehr gestellt, am wenigsten die Ambitionen eingebildeter Bürger. Alles wird von der nächsten Mode weggespült außer die Angst, irgendwo anzuecken.