Es sei "unabdingbar, daß sich die Außenpolitik verstärkt mit der internationalen Energiepolitik" beschäftigt, fordert Friedemann Müller, Leiter der Forschungsgruppe "Globale Fragen" der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), in einer Studie und spricht damit ein Thema an, das, und hier greift man wohl nicht zu weit, in diesem Jahrhundert von zentraler politischer Bedeutung werden dürfte. In ein breiteres Bewußtsein tritt dieses Thema aktuell freilich immer nur dann, wenn gerade einmal wieder die Benzinpreise gestiegen sind oder darüber räsoniert wird, daß die "Abhängigkeit von dem Energielieferanten Rußland" nicht zu groß werden dürfe. In diesen Momenten dringt ein wenig davon durch, wie verwundbar und abhängig Europa und damit auch Deutschland von den großen Anbieterländern letztlich sind. Würde sich zum Beispiel Rußland entschließen, seine Erdgaslieferungen nach Europa – Europa bezieht fast zwei Drittel seiner Erdgasimporte aus Rußland – auch nur zeitweise einzustellen, hätte dies für alle Empfängerstaaten katastrophale wirtschaftliche Folgen; von den weltwirtschaftlichen Schockwellen, die eine derartige Maßnahme auslösen würde, ganz zu schweigen.
Dieses Maß an Abhängigkeit – durch fixe Transportkapazitäten (Pipelines) zementiert – muß auch deshalb beunruhigen, weil ein Großteil des Erdgases und des Erdöls aus Ländern kommt, die entweder politisch auf ihre Ressourcen Einfluß zu nehmen versuchen oder aber in Regionen liegen, die durch Krisen und Konflikte gekennzeichnet sind.
Wie schwierig es ist, die leicht ausgesprochene Forderung nach einer Verminderung der Abhängigkeit von Rußland bei den Erdgaslieferungen zu realisieren, zeigen die Vorgänge um den sogenannten Vertrag von Turkmenbaschi, der am 12. Mai vorigen Jahres unterzeichnet worden ist. Der Vertrag werfe, wie die Politikwissenschaftlerin und Redakteurin Lili di Puppo auf den Internetseiten von www.caucaz.com zurückhaltend kommentierte, "einen Schatten auf die amerikanische und europäische Strategie der Energiediversifizierung".
Was war geschehen? Anfang Mai fanden zwei Energiegipfel statt, auf denen Exportstrategien für Energieressourcen aus der Kaspischen Region entwickelt werden sollten. Ein Gipfel fand in Krakau statt; hier trafen sich die Staatschefs von Aserbaidschan, Georgien, Litauen, Polen und der Ukraine. Es kam eine Deklaration zustande, die eine stärkere Zusammenarbeit im Transport von Energieressourcen über den Kaukasus nach Europa in Aussicht stellte.
Einen Tag später machte Rußlands Präsident Putin allen diesen Bestrebungen bei einem Parallelgipfel einen Strich durch die Rechnung. Putin bewirkte nämlich, daß Kasachstans Präsident Nursultan Nasarbajew nicht nur auf eine Reise nach Krakau verzichtete, sondern zusammen mit ihm und dem turkmenischen Präsidenten Gurbanguly Berdimuhammedow in Turkmenbaschi einen Vertrag unterzeichnete, der einen Ausbau der Kaspi-Pipeline vorsieht, der den Transport turkmenischen Erdgases über Kasachstan nach Rußland ermöglichen soll. Damit könnten nach der Darstellung von di Puppo die jährlichen Gastransporte aus Zentralasien nach Rußland von aktuell 50 auf 90 Milliarden Kubikmeter ansteigen. Zwar stockten die Verhandlungen über diesen Pipeline-Ausbau zwischenzeitlich, weil Rußland nicht in der Lage war, seinen zentralasiatischen Partnern attraktive Konditionen zu bieten; sie sollen aber jetzt in Bälde abgeschlossen werden.
China und Indien wollen am Kuchen beteiligt werden
Wird die Kaspi-Pipeline Realität, käme das einer Art Monopol für Rußland bei den Transportwegen, die vom Kaspischen Meer ausgehen, gleich. Putin dürfte es überdies gelungen sein, Kasachstan wieder stärker auf Moskau zu einzuschwören. Das zeigt sich unter anderem beim Thema Erdöl: Putin und Nasarbajew kündigten eine Expansion der Ölpipeline des Kaspischen Pipeline-Konsortiums (CPK, ca. 1.500 km lang) an.
Das Kaspische Pipeline-Konsortium war 1992 von Rußland, Kasachstan und Oman gegründet worden, um das kasachische und russische Erdöl zum Schwarzen Meer zu transportieren. Die Ankündigung von Putin und Nasarbajew deuten Fachleute als direkte Gefährdung eines von den USA beförderten Projektes, das darauf hinausläuft, die gerade eröffnete Ölpipeline Baku-Tiflis-Ceyhan (BTC) bis nach Kasachstan zu verlängern; es bedarf nämlich des kasachischen Öls, um die Rentabilität der BTC-Pipeline zu gewährleisten. Aber noch aus einem anderen Grund scheint ein größeres Engagement Kasachstans bei der BTC-Pipeline eher unwahrscheinlich. Kasachstan hält am BTC-Konsortium keine Anteile; die Pipeline des CPK teilt es sich mit Rußland. Das Interesse Kasachstans dürfte deshalb mehr der eigenen CPK-Pipeline gelten; es sei denn, den USA gelingt es mit attraktiven finanziellen Angeboten doch noch, Nasarbajew wieder ins BTC-Boot zu bekommen.
Im "Krieg der Rohre", eine Wendung der beiden französischen Journalisten Sébastien Daycard-Heid und Simon Mazurelle, sind aber nicht nur Rußland, Europa und die USA Akteure, sondern mehr und mehr auch China und Indien involviert. Über vier Milliarden Dollar zahlte zum Beispiel die Chinesische Nationale Ölgesellschaft an die Ölgesellschaft Petrokasachstan, die sich damit in mehrere Ölfelder im Süden Kaachstans einkaufte. China, Späteinsteiger im Kampf um die Sicherung von Energieressourcen, läßt nichts unversucht, um die etablierte Konkurrenz aus dem Feld zu schlagen. Auch Geschäfte mit zweifelhaften Regimes lösen bei den Chinesen keine sonderlichen Skrupel aus, wie im Westen mißmutig registriert wird. So konstatierten David Zweig und Bi Jianhai in einem Beitrag für die regierungsnahe US-Zeitschrift Foreign Affairs (Sept./Okt. 2005), daß "China wenig Raum für moralisches Verhalten" habe.
Mit Unmut verfolgt man in den USA insbesondere, wie China bemüht ist, stabile Beziehungen zum Iran herzustellen, der neben Rußland (Erdgas) und Saudi-Arabien (Erdöl) zu den drei großen Reserveländern für Erdgas und Erdöl gehört. 100 Milliarden Dollar soll laut Friedemann Müller (SPW-Studie Energie-Außenpolitik, 11/2006) das chinesische Investitionsvolumen bei Energieprojekten im Iran betragen. Alle diese Investitionen dienen nur einem Ziel, nämlich China bei der sich abzeichnenden Rivalität mit dem Westen im Kampf um Energieressourcen in eine bessere Position zu bringen.
Diese Entwicklung wird für den Westen Rückwirkungen haben. Rußland zum Beispiel hat sich in den letzten Jahrzehnten fast ausschließlich auf den europäischen Energiemarkt konzentriert und Asien vernachlässigt. Das Ergebnis dieser Politik ist, daß viele strategisch wichtige Pipeline-Routen in den Westen laufen. Jetzt buhlen China und auch Japan, um Moskau zum Ausbau der Transportwege in ihre Richtung zu animieren, und zwar nicht ohne Erfolg, weil sich auch in Moskau herumgesprochen hat, daß Asien Europa als Energieabnehmer mit einiger Sicherheit überholen wird. Daß Rußland bei aller Aktivität stets im Blick behält, nicht die Kontrolle über die Energieströme nach Asien zu verlieren, liegt in der Logik seiner Politik. Was diese mögliche Schwerpunktverlagerung der russischen Ressourcenstöme (insbesondere beim Erdgas) für Europa bedeutet, darüber kann nur gemutmaßt werden. Politische Antworten auf diese Herausforderung für die europäische Energiesicherheit stehen bisher weitgehend aus.
Der aus westlicher Sicht wohl unberechenbarste Kantonist dürfte derzeit der Iran sein. Die von den USA betriebene Sanktionspolitik tut ein übriges, dessen "Ostorientierung" (Indien, Pakistan und China) weiter zu verstärken. In diesem Kontext ist eine Paradoxie im Zusammenhang mit der Sanktionspolitik des Westens gegenüber dem Iran festzustellen. Die von den USA betriebene Isolierung des Iran hat beim Erdgas die Abhängigkeit von Rußland auf den internationalen Energiemärkten deutlich gefördert. Um so befremdender mutet es an, daß die mit dieser Abhängigkeit verbundenen Gefahren nun, da Rußland die Energiekarte offensiv ausspielt, beklagt werden.
Europa braucht den iranischen Liefermarkt
Es wäre aus europäischer Sicht jedenfalls angezeigt, mit dem Iran im Sinne der Balance auf den Weltenergiemärkten zu einem Ausgleich zu kommen. Europa braucht weitere Liefermärkte, allen voran den iranischen. Dies gilt um so mehr, als sich nach Bekanntwerden der US-Geheimdienstberichte (JF 51/07) die Gefahr eines Militärschlages gegen den Iran deutlich vermindert hat. Ein Ausgleich ist auch deshalb notwendig, weil der Iran in einer geostrategischen Schlüsselregion liegt; er grenzt an den Persischen Golf, in dem die Straße von Hormus eine der weltweit wichtigsten Schiffahrtsstraßen ist. Diese Straße verbindet die Ölhäfen Kuwaits, Bahrains, des Irak, der Vereinigten Arabischen Emirate und Irans. Was eine Krise in dieser Region für die Energiepreise bedeutet, haben die letzten Wochen, in denen ein Militärschlag gegen den Iran wahrscheinlicher zu werden schien, erneut deutlich gezeigt.
Dessenungeachtet wird über kurz oder lang ein grundlegender Politikwechsel im Hinblick auf die Energieversorgung von überlebenswichtiger Bedeutung sein. Bisher aber ist dieser noch nicht einmal ansatzweise sichtbar. Die Leistung der Politik besteht im Verdrängen der kommenden Herausforderungen. Wird die Energie aber auch künftig zu 85 Prozent aus Kohle, Erdöl und Erdgas gewonnen, droht ein Kollaps. Der erwartete Anstieg des Energieverbrauchs für die kommenden Jahrzehnte, der insbesondere durch den Verbrauchszuwachs von Entwicklungsländern, aber auch den neuen ökonomischen Mächten China und Indien bewirkt wird, kann nicht anders als dramatisch bezeichnet werden. Im Vergleich dazu nimmt sich der Grad von Abhängigkeit, der mit Blick auf bestimmte Anbieterländer bereits beklagt wird, geradezu harmlos aus.