Berlin, April 1945. Geschützdonner und Granateneinschläge peinigen die Stadt. Ein Schild an einer Hauswand weist darauf hin, daß Teppiche nur zu bestimmten Zeiten geklopft werden dürfen — letzter Gruß aus der bürgerlichen Ordnung, die längst außer Kraft gesetzt ist und stündlich weiter an Wert verliert. Im Keller eines halbzerstörten Wohnhauses hocken die Menschen beieinander, flüstern sich Gerüchte zu, betäuben ihre Angst. Russische Soldaten dringen ein, suchen nach Waffen und nach Uniformierten. Dann greifen sie nach den Frauen. Hunderttausende deutsche Frauen, vielleicht auch ein bis zwei Millionen, sind 1944/45 von feindlichen Soldaten vergewaltigt worden, vor allem von Angehörigen der Roten Armee, doch nicht nur von ihnen. „Anonyma — eine Frau in Berlin“ von Max Färberböck ist der erste Spielfilm, der sich dieser Tragödie explizit annimmt, über der bis heute ein schweres Tabu liegt. Mit dem Begriff „Tabu“ werden häufig soziale Normen, Sprachregelungen, kanonisierte Historien oder politische Zweckmäßigkeiten bezeichnet. Oft willkürlich gesetzt, sind sie sanktions- oder strafbewehrt. Das Tabu jedoch, das hier gemeint ist, reicht tiefer als ein rechtliches, religiöses oder moralisches Verbot. Tabus, schreibt Sigmund Freud, werden nicht auf das Gebot eines Gottes zurückgeführt, sondern sie gehören einer noch älteren Sphäre an, sie verbieten sich von selbst. Unbekannter Herkunft, erscheinen sie denen, die unter ihrer Herrschaft stehen, selbstverständlich. Sie sichern den Vollzug elementarer Lebensakte. Werden sie übertreten — wie durch den Inzest des Ödipus oder den Muttermord in der griechischen Tragödie —, folgen schwerste Strafen. Man nähert sich ihnen nur unter größten Überwindungen. Eine literarische Analogie bietet die Passage aus Goethes „Faust“, in der ein enervierter Mephisto, um Fausts Wissensdrang zu stillen, diesem vorschlägt, zu den Müttern hinabzufahren, worauf Faust erschaudernd ausruft: „Den Müttern! Triffts mich immer wie ein Schlag! / Was ist das Wort, das ich nicht hören mag?“ Sogar dem Teufel ist unwohl vor der Expedition: „Ungern entdeck ich höheres Geheimnis —/ (…) Nach ihrer Wohnung magst ins Tiefste schürfen; / Du bist selbst schuld, daß ihrer wir bedürfen.“ Anders als Vertreibung, Bombenkrieg usw., die im öffentlichen Diskurs randständig, im Privatbereich dafür um so intensiver diskutiert wurden, werden die massenhaften Vergewaltigungen sowohl öffentlich als auch privat beschwiegen. Das verweist auf die Tiefe der Verletzung, diese wiederum auf die Schwere und fortwirkende Gültigkeit des Tabus. Was für eine Chance für Regisseur Max Färberböck, eine archäologische Reise in die deutsche Psyche anzutreten! Immerhin stand ihm dafür eine authentische, hochemotionale und zugleich analytische Vorlage zur Verfügung, nämlich die zwischen dem 20. April und dem 22. Juni 1945 notierten Tagebuch-Aufzeichnungen einer — inzwischen identifizierten — „Anonyma“, die erstmals 1954 in den USA publiziert wurden. Die 1911 geborene Journalistin beschrieb darin, „was es bedeutet, in Furcht und Elend allein dazustehen“, wenn eine Machtinstanz — hier: die Rote Armee — den totalen Zugriff auf das durch keinerlei Institutionen und Regelwerk geschützte, nackte Leben ausübt und dauerhaft umformt. Etwa durch die massenhafte Defloration junger Mädchen, die dadurch für ihr ganzes Leben gezeichnet wurden. Es handelte sich um einen gewaltigen biopolitischen Eingriff, der die Psyche im kollektiven Maßstab veränderte. Da die Anonyma auf ihren Auslandsreisen die russische Sprache gelernt hatte, war sie in der Lage, die Siegersprache, die den meisten als „grobe Tierlaute, unmenschliche Schreie“ erschien, als „Menschensprache“ wahrzunehmen und so „die Übelsten von den Erträglichen“ zu unterscheiden. Um der Dauervergewaltigung zu entgehen, willigte sie in ein Verhältnis mit einem kultivierten russischen Offizier ein (der zuvor durch einen Untergebenen anfragen ließ, ob sie bereit dazu sei), wodurch sie vor den Übergriffen der anderen geschützt war. Aus dem Tagebuch ergibt sich, daß in diesem Verhältnis eine gewisse Nähe entstand. Die komplexe Vorlage ist Max Färberböck in weiten Teilen zu einer Schmonzette über eine tragisch-unerfüllte Liebe geraten. Der Film ist ein Kompromiß zwischen dem Kunstwillen und den zwei grundlegenden Ängsten des Regisseurs: erstens der Angst vor dem Vorwurf, er wolle die Deutschen „ideologisch entschulden“ und verschleiern, „wer die Angreifer, wer die Täter waren“ (so steht es im Presseheft). Zweitens vor dem Abgleiten in primitive Volkspädagogik. Über die wird im Film sogar gespottet. Als eine Frau berichtet, ein Frontsoldat habe ihr gesagt, würden die Russen nur einen Teil dessen, was Deutsche in Rußland angerichtet hätten, ihrerseits in Deutschland anrichten, gäbe es „in Bälde“ keine Deutschen mehr, antwortet ihr eine andere: „In Bälde? — Aber so redet doch keiner!“ In seinem Bemühen, sowohl dem Stoff, den Zuschauererwartungen, aber auch den geldgebenden Gremien, den informellen Zensoren und Wächterräten zu genügen, findet der Regisseur keinen roten Faden. Sicher, die schöne Nina Hoß kann in der Titelrolle überzeugen, bleibt im allgemeinen Grauen bis zum Schluß freilich allzu schön. Der russische Offizier Andrej, gespielt von Evgeny Sidikhin, verfügt über Charisma und maskuline Präsenz. Er wird ein Opfer der Stalinisten und seines Gerechtigkeitssinns: Geschichten, wie sie das Leben anno 1945 zweifellos schrieb, doch die Spezifik des Stoffs wird damit überlagert und auf die Platitüde reduziert, daß es in jedem Volk gute und böse Menschen gibt. Die anderen Darsteller wissen am Ende nicht mehr, wie sie überhaupt noch agieren sollen. Im Tagebuch schildert die Anonyma ein diskretes, im Ton des Galgenhumors geführtes Gespräch mit einer Freundin über Zahl und Art ihrer Vergewaltigungen. Im Film wird daraus ein Kaffeekränzchen dummer Gänse, die daherschnattern, als ginge es um den neuesten Promi-Klatsch aus Bild der Frau. Die Männer, die ihre Ehefrauen, Bräute, Töchter und Mütter den Siegern als Beute überlassen mußten, hatten sich laut Anonyma „noch schmutziger zu fühlen als wir besudelten Frauen“. Diese besiegten, geschlagenen „Gestalten sind so armselig, so gar keine Männer mehr. Man kann sie nur bemitleiden. Man erhofft oder erwartet auch gar nichts mehr von ihnen.“ Die Paralleltragödie des deutschen Mannes wird in der Figur eines in Zivilkleidung geschlüpften Wehrmachtsoffiziers (Rolf Kanies) greifbar, der die Schmach nicht erträgt und sich umbringt, sowie im Freund der Anonyma, Gert (August Diehl), der mit dem Geschehenen nicht zurechtkommt und sie verläßt. Damit ist zugleich jene Instanz matt gesetzt, welche die rächende Strafe für die Tabuverletzung hätte vollziehen bzw. irgendeine Form von Genugtuung hätte erzwingen müssen. Die Energie dieses Bedürfnisses, das angesichts der Machtverhältnisse ungestillt blieb, nahm den Weg der Inversion: in die kollektive Psyche der Deutschen, wo sie zu Autoaggressionen und neurotischen Störungen physischer, psychischer, geistiger Lebensakte führte — eine offenbar auf Dauer gestellte, sich fortzeugende Erbschaft. Denn neurotisierte Eltern sind die beste Voraussetzung für die Erzeugung neurotischer Nachkommen. Um zu gelingen, hätte der Film auch davon erzählen müssen. Über diesen dagegen läßt sich nur sagen, daß der Politik- und Kulturbetrieb in Deutschland anno 2008 einen besseren, tieferschürfenden nicht zuließ. Lesen Sie hierzu auch den ergänzenden Beitrag auf der Seite 15 Foto: Nina Hoss als Anonyma: Regisseur Färberböck hat die Chance vertan, eine archäologische Reise in die deutsche Psyche anzutreten; Jewgeni Sidikhin als Major Andrej, Nina Hoss: Gewisse Nähe
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