Rabenflug, die zweimal jährlich von Evelyne von Bonin herausgegebene Kulturzeitschrift für Literatur, Kunst und Geschichte, stellt in ihrer aktuellen Ausgabe auf 32 Seiten wieder Gedichte, Kurzprosa und Essays sowie Buchbesprechungen vor. Dabei ist die spannungsgeladene Mischung aus neuen Texten und der Sprache vergangener Kultur durchaus Programm und steht für das Selbstverständnis der Zeitschrift, anspruchsvolles Modernes und unvergängliches Altes in Beziehung zueinander zu setzen. Das ist auch diesmal wieder vorzüglich gelungen, wie die Heftbeiträge beweisen. Daß jedoch neben allem Schöngeistigen auch die klare politische Sprache nicht zu kurz kommt, dafür sorgt die Herausgeberin persönlich, wenn sie ihr Editorial ohne Furcht vor der sich immer totalitärer gebärdenden politischen Korrektheit mit dem Satz „Feigheit ist die neue Leitkultur in Deutschland bzw. Europa!“ einleitet. Richtig ist auch ihre Erkenntnis, daß die Politiker, ihr „Volk“ gar nicht mehr kennen, sondern nur mehr von „den Menschen“ sprechen. Hilfsweise bleibt eventuell noch „die Bevölkerung“, aber vielleicht ist selbst dieser lendenlahme und wachsweiche Terminus unseren „Verantwortungsträgern“ inzwischen bereits zu gefährlich. Als „alte Leitkultur“ sieht die Herausgeberin noch(!) die deutsche Sprache, obwohl ja auch hier die Sprachverhunzer, Denglisch-Fans und Vereinfacher eifrig am Werk sind. Welch reiche Ausdrucksfähigkeit unsere schöne Sprache hat, davon zeugen die Beiträge in Rabenflug. So schreibt Martin Hollender über die schwindende Erinnerungskultur in „Vertriebenensiedlungen“. Wer weiß denn noch, zumal von den Jüngeren, daß mit dem Berliner „Olivaer Platz“ an das Kloster Oliva bei Danzig erinnert werden soll? Während in der Bundesrepublik noch in den fünfziger und sechziger Jahren – auch aufgrund des Einwirkens der Landsmannschaften – Straßen und Plätze nach verlorenengegangenen ostdeutschen Städten und Gebieten benannt wurden, hat die Erinnerungskultur des Sozialismus in der DDR einst nach ostdeutschen Städten, Flüssen und Persönlichkeiten benannte Straßen zu Ernst-Thälmann-Plätzen, Karl-Marx-Alleen und Friedrich-Engels- und Rosa Luxemburg-Straßen umgewidmet. Und natürlich wurden als „revanchistisch“ geltende Namen gegen die von bewährten „Antifaschisten“ ausgetauscht. Über „Nietzsche als Erzieher“ schreibt Jochen Schaare: „Werde, der du bist!“ Der allgegenwärtige Konformismus im Zeitalter der Massendemokratien erziehe den Menschen so, daß nur noch die „Außenseiten der Persönlichkeit“ aufgebaut würden, während der „innere Kern“ weder entwickelt noch gepflegt werde. Als Resultat begegne man immer wieder „Menschen ohne Selbst“. Nietzsche sprach vom „letzten Menschen“, der das Produkt von wachsender Zivilisation und Vermassung sein werde, „geistlos, bequem und technisch ungemein versiert“. Dieser „letzte Mensch“ lebt ohne höhere Ziele selbstgefällig in den Tag hinein, eingelullt mit den Narkotika der Medien. Von Nietzsche lernen, heißt die Realität zu erkennen. Anschrift: Evelyne von Bonin. Herminenstr. 7, 65191 Wiesbaden. Einzelpreis 3,20 Euro, Abo 6 Euro
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