Das für Deutschland so böse Jahr 1806 (Ende des Heiligen Römischen Reiches, Niederlage der Preußen gegen Napoleon bei Jena und Auerstädt) bot auch einige Tröstungen, so vor allem die monumentale Volksliedersammlung "Des Knaben Wunderhorn", deren erster Band damals erschien. Herausgeber waren der preußische Gutsbesitzersohn Achim von Arnim und der Frankfurter Kaufmannssohn Clemens Brentano, zwei unzertrennliche Freunde, die sich freilich meistens erbittert stritten, nicht zuletzt über "Des Knaben Wunderhorn".
Gewidmet war das Unternehmen der beiden, das sich bis 1808 hinzog, in aller Ehrfurcht Johann Wolfgang von Goethe, der die Widmung auch gerne annahm und sich gnädig und aufmunternd äußerte. Andere Geistesgrößen, so die noch jungen, aber bereits notorischen Sprachhistoriker und Märchensammler Jakob und Wilhelm Grimm oder der berühmte Homer-Übersetzer Johann Heinrich Voß, verhielten sich sehr viel skeptischer und gossen fleißig Öl ins Feuer des Streits zwischen Achim und Clemens.
Es ging in erster Linie um die "Authentizität", wie man heute sagen würde, der gesammelten Lieder. Durfte man in die Texte der Fundstücke eingreifen, um sie "kulturfähig" zu machen (das war die erklärte Methode Achim von Arnims)? Oder mußte man alles voll in seiner "naiven" Ursprünglichkeit und oft auch Unbeholfenheit stehen lassen, um der "Wahrheit" und der "Volksnähe" willen (das war die Meinung Brentanos)? Die Auseinandersetzung wogte hin und her und spaltete am Ende sogar das Brüderpaar Grimm. Jakob war eher für Arnim, Wilhelm eher für Brentano.
Heutige Leser können die differierenden Positionen kaum noch nachvollziehen. Faktisch keine "Bearbeitung" läßt sich in den Texten mehr ausmachen. Es sei denn, man ist ein Germanist und speziell mit diesem Gegenstand befaßt. Jedes einzelne Stück wirkt ungemein frisch und gleichsam naturbelassen – und dennoch auch hochpoetisch, so daß man nicht weiß, was man mehr bewundern sollte, den Respekt der Herausgeber vor der spontanen Kraft des Originals oder die Delikatesse, mit der sie eventuell korrigierend eingegriffen haben.
Zunächst aber überwältigt bei der Lektüre die schiere Fülle des Gebotenen, man ist baß erstaunt über den unendlichen Fleiß und die offenbar nie ermattete Energie, mit denen Arnim/Brentano ihre Sachen zusammengetragen haben. Viele hundert (gar tausend?) Lieder sind versammelt; man sieht sogleich, daß Achim und Clemens einen höchst liberalen, weit ausgedehnten Begriff von Volkstümlichkeit gehabt haben und sich keineswegs nur bei sonntäglichen Bauerntänzen und in Kaschemmen voller grölender Studenten umhörten. Sie "recherchierten" buchstäblich auf allen sozialen Ebenen, und schon allein das verleiht ihrem "Wunderhorn" einmalige Authentizität.
Ein Dokument ist damals entstanden, an das keine heutige "Collection" auch nur annähernd heranreicht. Aufnahme-kriterien waren für Achim und Clemens nicht irgendwelche Unterschichtenmerkmale, die die "U-Musik" angeblich von der "E-Musik" scheiden, sondern sie nahmen einfach alles, was wirklich populär war, einerlei ob es von unten oder von oben kam. So geschah es, daß im "Wunderhorn" – neben anonymen Wanderliedern, frechen Bänkelsängen und schlichten Gassenhauern – auch Lieder von hochmögenden Großdichtern verschiedener Zeiten standen, z.B. der "Überdruß der Gelahrtheit" von Martin Opitz, und daß alle das für völlig selbstverständlich hielten.
Am wenigsten spielte eine Rolle, ob ein Lied "uralt" oder "hochmodern" war. Texte aus dem Mittelalter stehen direkt neben Gedichten von Claudius, Uz oder Günther, und auch das fand man ganz selbstverständlich. Wichtig waren weder Alter noch Herkunft, sondern einzig die Sangbarkeit. Wenn irgend möglich, wurden die Noten mitgeliefert. Die Musik nahm die Sprache unter ihre Regie, die Jenaer Ästhetik-Philosophen hielten darüber auch schon Vorlesungen, Arnim/Brentano nahmen es nur auf.
Nachtigall, ick hör dir trapsen", frotzelte der Berliner Volksmund bald nach Erscheinen des ersten Bandes des "Wunderhorns". Das bezog sich zunächst scheinbar nur auf ein damals ungemein populäres Liedchen, das durch seine Aufnahme ins "Wunderhorn" noch populärer geworden war: "Nachtigall, ich hör dich singen, / Das Herz möcht mir im Leib zerspringen. / Komme doch und sag mir bald, / Wie ich mich verhalten soll" usw. Aber dieses Liedchen wurde nun geradezu zur Parole des romantischen und biedermeierlichen Zeitalters. Die Musik bekam das Prä, und das "Wunderhorn" lieferte dafür Material und Beispiel.
Kein Großdichter war sich fortan zu schade, "Volksweisen" zu schreiben, die von vornherein auf allgemeine Sangbarkeit und Vertonung angelegt waren. Und kein Komponist seinerseits scheute sich, solche Volksweisen auch tatsächlich zu vertonen, "Lieder" zu erschaffen und sich dafür gegebenenfalls aus "Des Knaben Wunderhorn" die Vorlagen zu holen. Das reichte das ganze 19. Jahrhundert hindurch, bis hin zu Gustav Mahler. Viele von dessen Klavier- und Orchesterliedern sind ja direkte Vertonungen aus "Des Knaben Wunderhorn": "Zu Straßburg auf der Schanz", "Schlimme Kinder artig machen", "Scheiden und Meiden", "Verlorne Müh", "Trost im Unglück".
Nie hat es in Europa eine Kunstperiode gegeben, in der die Allianz von Volkslied und Kunstlied, höchstem intellektuellem Anspruch und populärer Sangbarkeit so eng und auf eine solche Höhe gebracht war wie im damaligen Deutschland, von der Romantik bis tief in den Wilhelminismus hinein. Den Weg zu solcher Höhe hat nicht zuletzt "Des Knaben Wunderhorn" geebnet. Der ewige Streit zwischen Achim von Arnim und Clemens Brentano, Jakob und Wilhelm Grimm über "Original oder Korrektur" fand seine gloriose Lösung im Kunstvolkslied des 19. Jahrhunderts. Die Geschichte schreibt eben immer die besten Pointen.