Freispruch für die Deutsche Wehrmacht“ heißt eine Neuerscheinung mit dem Untertitel „Unternehmen Barbarossa erneut auf dem Prüfstand“. Das Buch behandelt den Angriff auf die Sowjetunion von der Planung über den gleichzeitigen Aufmarsch der deutschen und der sowjetischen Armee, über die Besonderheit des Rußlandfeldzugs als Ideologie- und Rassenkrieg, den Ablauf, die spezifische Kampfführung der Roten Armee, das Verhalten der Wehrmacht in Rußland und ihre Abgrenzung zu den SS-Einsatzgruppen und dem SD. Das Buch ist lesenswert, weil Andreas Naumann dem Thema neue Seiten abgewinnen kann und diese gut lesbar darstellt. Der Autor bezieht sich dabei nicht nur auf die deutsche Literatur aus anerkannter Feder, sondern – und das ist oft viel aufschlußreicher – auch auf sowjetische Autoren wie die Marschälle Bagramjan, Shukow, Wassilewski und andere wie Gorodetski, Suworow und Wolkogonow. Er macht deutlich, wie sich das Unheil während der Eskalation des Zweiten Weltkriegs Schritt für Schritt zusammenbraute, ehe Hitler den Entschluß faßte, Rußland anzugreifen. Naumann stellt dar, wie sich die Politisierung und der Rassenkrieg ganz langsam, oft durch die Hintertür, erst im Polenfeldzug 1939, dann in der Sowjetunion wie ein Krebsgeschwür in die deutsche Kriegführung hineinfraß. Auch wenn Naumann glaubhaft nachweisen kann, daß Völker- und Judenmord nie in die Befehlsgebung der Wehrmacht Eingang gefunden haben, entlastet er damit nicht unbedingt die deutsche Kriegsstrategie, da die Polizeiverbände und der Sicherheitsdienst SD der SS schließlich auch Deutsche waren. Das Buch zeigt, wie auf deutscher und auf sowjetischer Seite synchron die Einsicht wuchs, daß die jeweils andere Macht sich zur Gefahr für das eigene Land entwickelte. Im Dezember 1940 wurde sowohl in Moskau als auch in Berlin im Beisein von Stalin hier und Hitler dort in Planspielen untersucht, wie man einen Krieg gegen das andere Lager würde führen können. Mitte Juni 1941 waren dann drei Millionen deutsche plus 600.000 verbündete Soldaten und auf der Gegenseite 5,3 Millionen sowjetische Soldaten an den Fronten aufmarschiert. Dem folgt sehr überzeugend auf gut achtzig Seiten die Schilderung der Indizien, die zweifelsfrei belegen, daß Stalin und sein Generalstabschef Shukow die sowjetischen Soldaten bis zum Juni 1941 zum Angriff und nicht zur Verteidigung haben aufmarschieren lassen. Ein heikler Teil des Buches befaßt sich mit den deutschen Kriegsverbrechen in den eroberten Teilen der Sowjetunion. Naumann stellt die begangenen Verbrechen der Einsatzgruppen der SS neben die Verbrechen, die den deutschen Streitkräften darüber hinaus von vielen deutschen Zeitgeschichtlern angelastet worden sind, obwohl sie nachweislich von Soldaten, Milizionären oder Partisanen anderer Nationen begangen wurden. Da gab es die Beseitigungsaktionen der abziehenden Sowjets, die Hunderttausende von „inneren Feinden“ aus der eigenen Bevölkerung liquidiert hatten, ehe sie das Baltikum und die Ukraine an die Deutschen und Bessarabien an die Rumänen verloren. Da gab es in großem Umfang Racheakte der verschiedenen Völker aneinander, bei denen – wie schon zuvor in Polen (Jedwabne) – Letten, Litauer, Esten, Weißrussen, Ukrainer und Rumänen gleich zu Beginn des Krieges ihre alten und neuen Rechnungen an ihren Peinigern von gestern beglichen und an denen, die sie dafür hielten: vorwiegend an Russen und an Juden. Da gab es die kriegsvölkerrechtswidrige Einbeziehung der Zivilbevölkerung in den Krieg durch die Sowjetunion, den Partisanenkrieg. Die Partisanen und ihre Unterstützer wurden von der Wehrmacht und den Einsatzgruppen der SS mit harter Hand bekämpft, sehr zum Schaden der hineingezogenen Zivilbevölkerung. Überschattet wurde dieses von der Ermordung von Juden, die immer grauenhaftere Züge annahm. Der reguläre Krieg der Streitkräfte, die Pogrome der von den Sowjets freigekommenen Völker an ihren vormaligen Unterdrückern, der Partisanenkrieg und die Mordaktionen an Juden bildeten ein verworrenes Gemenge, das Naumann anhand einer großen Zahl von Beispielen darstellt. Auch wenn Naumann hier viele Vorwürfe gegen die Wehrmacht entkräften kann, und wenn er nachweist, daß die Wehrmachtsgerichtsbarkeit die Bevölkerung in den besetzten Gebieten wirksam vor Übergriffen der deutschen Soldaten geschützt hat, bleibt doch die bittere Einsicht, daß die Verbrechen der Einsatzgruppen der SS leider trotzdem auf das deutsche Konto gehen. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor 15 Jahren und dem Ende der Bedrohung aus dem Osten ist das Interesse des deutschen Fachpublikums an den großräumigen und brillant geführten militärischen Landoperationen der deutschen Wehrmacht vollends erloschen. Statt dessen rückt das Interesse an der deutschen Schuld in Rußland in den Mittelpunkt. Mit der Wiedervereinigung haben die Vertreter des prosowjetischen Antifaschismus, der ein Staatsdogma der DDR war, ein neues interessiertes Publikum in der alten Bundesrepublik gefunden. So sind die „Verbrechen der Wehrmacht“ in der Sowjetunion seit der Wiedervereinigung dort auf verstärkte Aufmerksamkeit gestoßen. Da nimmt es nicht wunder, daß Naumann dem Partisanenkrieg in der Sowjetunion gut 100 Seiten widmet, auf denen er diese Kriegsform außerhalb des Kriegsvölkerrechts darstellt und analysiert. Hier kommt viel Blut und Schuld zutage; Blut und Schuld auf beiden Seiten, aber auch manches vielen Lesern unbekannte Großereignis wie die komplette Zerstörung des Stadtkerns der ukrainischen Hauptstadt Kiew durch sowjetische Partisanen (24. bis 29. September 1941) in einer Sprengstoff- und Feuerorgie oder das unerschrockene Eintreten der Heeresgenerale von Gienanth, von Roques und von Unruh bei Hitler für das Wohl der Ukrainer. Es bleibt zum Schluß die Frage, ob das Buch wirklich einen Freispruch für die Wehrmacht bringt. Freispruch ist ein Terminus aus dem deutschen Strafrecht, genauso wie die mildernden oder strafverschärfenden Umstände. Das Buch wäre richtiger – wenn auch weniger griffig – „Mildernde Umstände für die Deutsche Wehrmacht“ betitelt worden. Andreas Naumann: Freispruch für die Deutsche Wehrmacht. „Unternehmen Barbarossa“ erneut auf dem Prüfstand. Grabert Verlag, Tübingen 2005, 736 Seiten, Abbildungen, gebunden, 29,80 Euro Gerd Schultze-Rhonhof ist Generalmajor a.D. 2003 veröffentlichte er beim Münchner Olzog Verlag „1939 – Der Krieg, der viele Väter hatte“.