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Expertokratie

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Weißmann, Reich, Republik, Nachkriegsrechte

Werden die Berufspolitiker auf einmal von den Experten verdrängt? Als Mario Monti im November den Sessel Berlusconis einnahm, rieb man sich die Augen, wie schnell der Cavaliere plötzlich weg war und wie selbstverständlich das Parteiengezänk schwieg, als der italienische Staatspräsident Napolitano den parteilosen Wirtschaftsprofessor erst zum Senator auf Lebenszeit und sodann zum Ministerpräsidenten, Wirtschafts- und Finanzminister in einer Person (!) ernannte. Die linksliberale Einheitspresse jubelte, schließlich war der abgetretene barocke Potentat und Skandal-Macho schon immer einer ihrer Lieblingsfeinde – darüber hinaus freute man sich offenkundig auch, daß endlich keine störenden Wahlen die Rettung des Euro oder der Banken durchkreuzen.

Als Schäuble vor zwei Wochen auch Griechenland eine „Expertenregierung“ empfahl, protestierte der griechische Präsident, aber ansonsten regte sich niemand auf, zumal nicht im harmoniesüchtigen Deutschland, in dem es als „unwürdige Kampfkandidatur“ gilt, wenn in einer Partei mehrere Kandidaten gegeneinander antreten – so jedenfalls Spiegel-Online über die Bemühungen der Linken, sich auf einen Bewerber um das Amt des Bundespräsidenten zu verständigen.

Pastoren als Sinn-Experten

Außerhalb der Linkspartei interessiert das niemanden, schließlich hat eine Allparteienkoalition sich längst auf Joachim Gauck geeinigt – auch er ist ein parteiloser Experte: In Deutschland gelten immer noch evangelische Pastoren bevorzugt als konsensfähige „Experten für Sinnfragen“. Im Vergleich mit katholischen Theologen polarisieren sie weniger, und reine Berufspolitiker wie Wulff oder Merkel zeigen sich der Sinnvermittlungsaufgabe trotz (gefühlter) täglicher Gedenkrituale sowieso nicht gewachsen.

Auch die von der Linken nun doch noch aufgestellte Beate Klarsfeld, deren moralische Autorität darin besteht, einen Bundeskanzler geohrfeigt zu haben (nebenbei gefragt: Was wäre mit einem Kandidaten einer rechtsextremen Partei, der Frau Merkel geohrfeigt hätte?), ist nur äußerlich Gaucks Gegenkandidatin, schließlich hätte sie es „lieber gehabt“, wenn die CDU oder SPD sie nominiert hätte, aber auch mit den Linken habe sie „keine Bauchschmerzen“. Ebensowenig wie die CDU, die jüngst in Mecklenburg mit der Partei der Mauermörder und Handlanger der sowjetischen Besatzer eine gemeinsame Bürgermeisterkandidatin aufstellte – und die verdiente Quittung erhielt.

Übergang zur Expertokratie

Ungeachtet der verhältnismäßigen Beliebtheit und gemutmaßten Eignung Gaucks für das höchste Staatsamt ist seine Aufstellung durch eine Allparteienkoalition ein weiterer Schritt der Entdemokratisierung und des Übergangs zur Expertokratie. Zwar werden im Bundestag im Wesentlichen nur noch die Beschlüsse der „Experten“ in Brüssel umgesetzt, aber wenn die demokratisch gewählten Politiker auch sonst und immer selbstverständlicher nach den Experten rufen, heißt dies, daß sie sich nicht dazu zählen.

Könnte der Äußerung Schäubles, daß Deutschland seit 1945 nie wirklich souverän war, nicht bald das offizielle Eingeständnis folgen, daß die Bundesrepublik auch gar keine wirkliche Demokratie (mehr) ist? Oder müßte man gar feststellen, daß Deutschland durchaus eine Demokratie sei, die Lösung der drängenden Probleme – etwa die Sicherstellung des Selbsterhalts des deutschen Volkes – von einer solchen aber nicht erwartet werden könne? Wohlgemerkt ist dies eine Frage, die sich aus dem Ruf nach dem Experten ergibt, und keine Antwort – ich möchte in keiner Gesellschaft leben, die von reinen Technokraten der Macht geführt wird. Was im Labor funktioniert oder in einer wissenschaftlichen Abhandlung stimmig erscheint, scheitert oft in der Praxis, in der unendlich viel mehr Aspekte zusammenkommen.

Nachhaltigkeitsproblem der Demokratie

Trotzdem ist das Nachhaltigkeitsproblem der Demokratie struktureller Art. Es folgt nicht nur aus der „schlechten Umsetzung“ einer „guten Idee“, wie manche noch immer vom Sozialismus sagen, den sie daher von seiner „real existierenden“ Version abgrenzen, sondern es gründet in der systemischen Verantwortungslosigkeit von Berufspolitikern, die das Geld, das sie ausgeben, nicht erwirtschaftet haben und nicht (wie ein traditionaler Herrscher) von den Urahnen bis zu den Urenkeln, sondern von einem Wahltermin bis zum nächsten denken.

Die Akzeptanz des noch bestehenden Systems wird immer geringer, die Veränderungen liegen in der Luft. Die Frage, die man bislang kaum stellen durfte, die die Expertokraten aber bereits für sich zu beantworten beginnen, lautet: Hilft uns mehr Demokratie, weniger Demokratie oder eine Kombination von beidem?

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