Derzeit liegt in Berliner Cafés eine Postkarte mit der Aufschrift „Liebe ist das einzig Schockierende auf diesem Planeten“ aus. Ob sie wirklich das einzig Schockierende ist, sei dahingestellt. Aber es stimmt: Wo Amor hinschießt, wächst kein Gras mehr. Denn sein Pfeil ist giftig, löst neben Liebe auch deren Kummer aus. Und Liebeskummer gehört zum Schlimmsten, was einem Menschen widerfahren kann.
Die Seele stirbt bei lebendigem Leib. Man verliert sich, löst sich auf – und manch einer erholt sich nie wieder. Inzwischen regt sich Widerstand: Lieber emotional auf Sparflamme funktionieren, als (nochmal) in den Vulkan zu springen.
Nach Jahrzehnten der freien Liebe ist die Enttäuschung maßlos. Außer Mythen nichts gewesen. Deshalb erfährt die „Vernunftehe“ in der Ratgeber- und Sachliteratur erste Rehabilitierung. Der britische IT-Experte David Levy glaubt sogar an künftige Androiden als Lebenspartner. „Love and Sex with Robots“ lautet folglich der Titel seines Buches. Manche gehen soweit, nicht bloß die Funktionsfähigkeit, sondern die Liebe insgesamt zu leugnen. Die sei vielmehr eine Imagination aus der Romantik, ein Kulturphänomen ohne „biologische“ Grundlage.
Auf kultische Nischen angewiesen
Wer derart heftig negiert, hat natürlich Angst. Und die ist weit verbreitet. Schon die Alltagssprache geht auf Distanz, wenn sie von „Beziehungskisten“ redet. Diverse Anglizismen sorgen für „coolness“, also für zusätzliches Fernhalten. Und doch ist gerade solche Verdrängungskultur auf kultische Nischen angewiesen, in denen das Beseitigte weiter bestehen, wieder aufleben kann.
So besuchen zahlreiche Touristen in Verona das angebliche Haus der Julia – der Heldin aus Shakespeares „Romeo und Julia“. Man bestaunt den Balkon, den ihr jugendlicher Liebhaber einst erklommen hat, klebt mit Kaugummi kleine Liebesbriefchen an die Wand des Renaissance-Gebäudes und berührt die rechte Brust der Julia-Bronzestatue. Letzteres soll Glück bringen, oder wenigstens glücklich machen. Aber das ist nur Urlaubsromantik, inszenierter Ausnahmezustand, imitiertes Kino. Das Gros dieser Touristen freut sich im Alltag über pragmatische Hinweise, wie Liebeskummer zu überwinden sei.
So wie man den Tod überwindet, indem man nicht an ihn denkt – die Zeichen seines künftigen Kommens durch Anti-Falten-Crème, Botox und „Wellness“ „bekämpft“. So etwas nennt man „Verschiebung“. Und wie immer gilt: je uneffektiver die Maßnahme, desto grausamer.
Emotionales Sicherheitsdenken
In der Fiktion des endlosen Funktionierens ohne Zusammenbruch geben sich die Ideologien des 20. und 21. Jahrhunderts erstaunlich einig. Erst wenn sich der Mensch wirklich als endliches Wesen begreift, dessen Leben nicht nur finanziell, sondern auf tiefster Ebene scheitern, gar zerbrechen kann – erst dann gibt er sich wieder frei für Amors Rausch- und Giftpfeile.
Louis Ferdinand Céline heizt in „Guignols Band“ seinen Lesern ein: „Laßt euch erschüttern, Gott verdammt! Springt! Bebt! Platzt aus euren Panzern! Wimmelt, ihr Krabben! Reißt euch auf! Findet die Ergriffenheit! Das Fest ist da! Endlich! Etwas! Erwachen! Los nur, ran! schofele Roboter! Stellt euch um oder sterbt! (…) Küßt die, welche ihr möchtet! Wenn es noch Zeit ist! Auf euer Wohl! Wenn ihr am Leben seid! Das übrige kommt ganz von selbst! (…) Laßt eurem kleinen Herzen freien Lauf. Es wird alles das erfüllen, was ihr hineinlegt! Donner oder Flötenton! Wie in der Hölle, wie im siebten Himmel!“
Mit Bezug auf die eingangs erwähnte Postkarte könnte man auch sagen: Laßt euch schockieren. Alternative dazu ist das emotionale Sicherheitsdenken der Gegenwart, mit ihrer unerbittlich steigenden Depressionsstatistik.